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Marcel WinatschekPhilosophische Texte über Gestaltung, Informatik und digitale Populärkultur
Eine Cyberpunkgeschichte: Das Mädchen am Ende der Welt
© Oleg Onchky und Jr Korpa

Eine CyberpunkgeschichteDas Mädchen am Ende der Welt

Hinter mir lag das Leben. Die sonst eher dürftig erscheinende, aber im Grunde die Reize fast schon überflutende Helligkeit der Stadt, wurde mir besonders dann bewusst, wenn ich, wie jeden Abend, auf der hohen Mauer stand, die sie umschloss. Dann spähte ich aufmerksam in das sich vor mir ausdehnende Nichts, welches jeden noch so entschlossenen Beweis für meine Existenz seit dessen Bestehen mit aller Kraft zu widerlegen versuchte.

Früher sollen hier einmal Wiesen und Strände, Blumen und Vögel, Flüsse und Meere, ja, ein ganzer Ozean gewesen sein. Nun wurde Neutokio lediglich von Eis, Schnee und einem niemals enden wollenden Schwarz umrahmt. Wie ein Licht in der Dunkelheit trotzte die mit schimmernden Hochhäusern gespickte Metropole wacker dem Unheil, das vor ihren für immer versiegelten Toren auf sie und ihre Bewohner zu lauern schien.

Kein Licht, kein Ton, nur der bitterkalte Tod und seine Freunde starrten einem an dieser letzten, hastig errichteten Grenze vor dem ewigen Grab vieler stumm entgegen. Und je länger mein Körper diesen trostlosen Blick erwiderte, desto verzweifelter suchte mein Herz nach Antworten auf Fragen, die es womöglich gar nicht gab. Warst du da draußen? Irgendwo in dieser gespenstigen Einöde? Hatte ich dich wirklich gesehen?

Meine Augen rissen sich, mit mehr Anstrengung als mir lieb war, von der erdrückenden Leere los und schweiften letztendlich wieder zurück in das Hier und Jetzt. Eine längst verwitterte Gedenktafel, die einst inmitten der westlichen Aussichtsplattform angebracht worden war, erinnerte durch bizarre Abbildungen und eine kaum mehr entzifferbare Widmung an die unzähligen Opfer des Asteroiden, der vor mehr als einem halben Jahrhundert in den früheren Golf von Mexiko einschlug und die Erde erst in ein flammendes Inferno verwandelte und sie anschließend in eine dunkle und ewig andauernde Eiszeit hüllte.

Die letzten Reste der Menschheit hatten sich in den wenigen übrig gebliebenen und heute von grellen Neonlichtern durchfluteten Großstädten zusammengerottet und gingen dort, nach einer kaum überwindbaren Ära der Verzweiflung, ihrem mehr oder weniger geordneten Tagewerk nach. Eine groteske, aber gleichzeitig beruhigende Normalität hatte Einzug in das Dasein der Überlebenden gehalten. Sie atmeten noch. Und das war alles, was zählte.

Links von mir streute ein an den Stock gebundener Greis mehrere Rosenblätter bedächtig über die kontinuierlich rot blinkende Absperrung und summte dabei leise ein fast vergessenes Volkslied vor sich hin. „Wenn der Wind sprechen könnte, würde ich ihm eine Botschaft für meine Geliebte mitgeben, denn er weht durch so viele Länder.“ Auf der anderen Seite des Platzes küsste sich, von der intimen Geste der schon bald erloschenen Seele ziemlich unbeeindruckt, ein jugendliches Pärchen.

Eine milde Windböe schlug ein paar frisch vor sich hinfallende Schneeflocken in die Gesichter der umherstehenden Verlorenen und scherte sich dabei wenig um ihre Gedanken, Hoffnungen oder Erinnerungen. Ich zog den Kragen meines Mantels ein wenig fester zu und fragte mich, welche Geheimnisse die Dunkelheit allein durch ihre pure Anwesenheit wohl so vehement vor mir zu verbergen versuchte. Mein Kommunikator klingelte.

Kiki hatte sich wieder einmal mit Fish gestritten und forderte nun trinkfeste Gesellschaft bei ihrer fortgeschrittenen Zerstreuung. Ablehnen war keine Option. Kiki kannte kein Nein. Das war schon immer so. Ich verbeugte mich hastig vor der Gedenktafel, verließ die Aussichtsplattform über die breite, stählerne Treppe hinter mir und machte mich auf den Weg ins Momo, wo meine ungeduldige Abendunterhaltung bereits beim Hochprozentigen angekommen sein musste, wenn man ihren latent lallenden Worten Glauben schenken durfte.

Die für ihre erbarmungslose Pünktlichkeit geschätzte Untergrundbahn war dank der voran geschrittenen Uhrzeit längst nicht mehr so voll wie bei meiner Hinfahrt. Einen Sitzplatz konnte ich dennoch nicht ergattern. Inmitten der meist dösenden Reisenden saß ein kleiner Junge und stierte konzentriert auf seine mit farbenprächtigen Aufklebern verzierte, allerlei piepsende Töne von sich gebende Spielkonsole, während er hektisch auf den abgenutzten Tasten herum drückte. Direkt vor ihm stehend, konnte ich einige Monster, Raumschiffe und hin und wieder Explosionen auf dem Bildschirm erahnen. „Nächste Station: Shibuya. Shibuya.“ Ich stieg aus.

Als ich wieder an die Oberfläche trat, türmten sich vor mir penetrant funkelnde Geschäftsgebäude, an deren Fassaden überdimensionierte Werbetafeln mit neuen Produkten, günstigen Dienstleistungen und hübschen Prominenten befestigt worden waren. Passanten drängten sich über die große Kreuzung hin zu den von ihr fortführenden Straßen, ließen sich von den Versprechungen locken, gegen ein paar Yen für Ablenkung vom tristen Alltag zu sorgen, und flossen daraufhin in die von warmem Licht erfüllten Eingänge. Die auf einem Podest angebrachte Statue eines tapferen Hundes blickte mich schweigsam an, als ich mich an ihr und den um sie herum platzierten Wartenden vorbei schlich, um mich gerade noch rechtzeitig aus den Fängen dieses glitzernden Molochs zu befreien. Mein Glück fand ich an diesem Abend woanders.

Das Momo war nur ein paar Gehminuten vom Bahnhof entfernt. Vorbei an der runzligen Wahrsagerin, dem billigen Bordell und dem winzigen Supermarkt, der niemals schloss, und dann gleich rechts abgebogen. Als ich die Tür unter der summenden Neonröhre öffnete, um mich von der auf der anderen Seite wartenden Menschlichkeit wärmen zu lassen, grinste Daddy mir bereits entgegen. „Du bist ja schon wieder zurück“, hörte ich eine tiefe, männliche Stimme erfreut rufen. „Setz dich, Junge, ich bring dir gleich etwas zu essen.“ Ich trat ein.

Im Momo, einer mit allerlei antiken Krimskrams eingerichteten Mischung aus Kneipe, Café und Restaurant, die in einer engen, leicht übersehbaren Hintergasse inmitten von Neutokio lag und rund um die Uhr ein beliebter Treffpunkt für Außenseiter, Lebenskünstler und andere skurrile Gestalten zu sein schien, roch es nach glühenden Zigaretten, würziger Nudelsuppe und frisch gebrühtem Kaffee. Es gab auf dieser Welt keinen Geruch, den ich lieber in meiner meist verschnupften Nase hatte.

Der pfirsichfarbene Kater mit dem dicken Bauch und dem flauschigen Fell, der den Boden gründlich und gemächlich zugleich nach fallen gelassenen Häppchen absuchte und meine Anwesenheit keines Muckses würdigte, hieß genauso wie das Geschäft, in dem er den Großteil seiner Tage und Nächte verbrachte. Allerdings konnte sich niemand mehr daran erinnern, wer von den beiden diesen Namen zuerst trug. Nicht einmal der Hausherr, der sowohl das Restaurant als auch das hochnäsige Tier sein Eigen nennen durfte.

Ich setzte mich an den einzigen freien Tisch am Fenster und schob das mit Essensresten garnierte Geschirr der vorangegangenen Gäste von mir fort. Kleine, weiße Punkte fielen lautlos vor der schmutzigen Scheibe gen Boden und ließen den Schneesturm, der gerade im Begriff war, auf Neutokio zuzurollen, kaum erahnen. Die schummrig gelblich strahlende Lampe an der Decke flackerte stetig vor sich hin, so wie sie es bereits an dem Tag tat, an dem ich zum ersten Mal einen Fuß in diese meist fröhliche Gesellschaft setzte.

Der Mann, den alle nur Daddy nannten und dessen Alter ein in etwa genauso großes Mysterium war wie der Rest seiner Biografie, besaß einen gütigen und dennoch bestimmenden Blick, mit dem er stolz über sein zugegeben ziemlich überschaubares Reich wachte. Über seinem rechten Auge thronte eine sichtbare Narbe, die überraschend gut zu seinem ansonsten sanften Wesen passte und ihm, ohne weiteres Zutun, eine von vielen geschätzte und nicht wenigen Unruhestiftern respektierte Aura verschaffte.

So manch einer würde Daddy, dessen väterliche Ratschläge bereits ganze Stadtteile vor Unheil bewahrt hatten, als sportlich bezeichnen, obwohl er keine Gelegenheit ausließ, um Freunde wie Feinde gleichermaßen ohne jegliche Anstrengung unter den Tisch zu trinken. Mit seinen grauschwarzen Haaren und immer im blauen Arbeitsanzug und einer hellen, mit allerlei Flecken übersäten Schürze gekleidet, stand er hinter dem Tresen und füllte großzügig die ständig aufs Neue geleerten Gläser.

An so manchem ansonsten ereignislosen Abend verlor ich mich in meinen eigenen Gedanken und beobachtete Daddy mehr oder weniger auffällig dabei, wie er mit allerlei Töpfen, Pfannen und Schöpfern in der Küche herum jonglierte. Dann klimperte, zischte und brodelte es und so mancher Behälter ging auch gerne einmal in Flammen auf. Die Gerichte im Momo waren schlicht und günstig, aber so gut, dass sie sogar bis nach Kleinchina, am anderen Ende der Stadt, für ihren außerordentlichen Geschmack bekannt waren.

Mein knurrender Magen erfüllte, trotz der mit ihm konkurrierenden Geräuschkulisse von lachenden Essern und grölenden Trinkern, den Raum. Für Daddy war der fast schon bemitleidenswerte Laut wohl das entscheidende Signal, auf das er gewartet hatte. Er stellte mir eine wuchtige Schüssel voller dampfender Ramen sowie zwei randvolle Gläser mit Wodka darin auf den Tisch. „Die Heizung macht schon wieder Probleme“, hustete er mir entgegen. „Suppe und Schnaps, nichts wärmt besser.“ Er hob eines der beiden Gefäße mit seiner rechten Hand in die Höhe, kippte sich den kompletten Inhalt gezielt, und ohne auch nur einmal abzusetzen, in den Rachen und verschwand anschließend wieder in der Küche.

Ich puhlte zwei verschieden lange Essstäbchen aus dem Holzbecher, der vor mir auf dem Tisch stand, begann mit ihnen, in der von Kräutern durchsetzten Brühe herum zu rühren, und blätterte währenddessen in einer der vergilbten Zeitschriften aus einer längst vergangenen Zeit, die übereinander gestapelt neben mir lagen. Auf einer Doppelseite posierten schöne Frauen in luftigen Sommerkleidern vor einer tropischen Kulisse und zwinkerten mir keck entgegen. Sie würden die Mode der Saison präsentieren, stand dort in auffallend großen und mit allerlei rosa Herzen verzierten Buchstaben geschrieben.

Im winzigen Fernsehgerät, das flackernd auf einem Regal gegenüber der Fenster thronte und selbst die unangenehmsten Besucher mit Filmen, Musik und aktuellen Begebenheiten aus der Stadt unterhielt, philosophierten in diesem Augenblick sanfte Stimmen zu weichen Melodien über Verliebte, die in ihren Booten der Sonne entgegen segelten und auch sonst sehr glücklich zu sein schienen.

Ich nahm einen kleinen Schluck aus dem fast überlaufenden Wodkaglas. Die klare Flüssigkeit brannte mir im Hals, als sie sich Zentimeter für Zentimeter ihren Weg nach unten bahnte. Der angenehme Schmerz gab mir das Gefühl, trotz des Bestehens eines gewissen Nichts, das ungeduldig auf meine baldige Ankunft wartete, am Leben zu sein. Als Kiki mich inmitten der anderen rotwangigen Gesichter erblickte, kam sie schnurstracks auf mich zu. Ihr Lächeln erinnerte mich an das Mädchen am Ende der Welt.

Sonntag, der 4. Dezember 2022

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