Drive My Car: Von Menschen, die auf Straßen starren
Marcel Winatschek
Yusuke blickt aus dem Fenster. Unter der Stimme seiner verstorbenen Frau fliegen Häuser, Bäume und das Meer an ihm vorbei. Er bemerkt nicht, dass vor ihm noch eine weitere Person in dem roten Saab 900 Turbo sitzt, während er die Lücken in den Sätzen mit seinen eigenen Worten füllt. Dabei wird Misaki ihn schon bald an einen Ort fahren, an dem er endlich zu sich selbst finden kann. Ich habe gestern Abend nun bereits zum zweiten Mal Drive My Car von Ryusuke Hamaguchi ge…

Drive My CarVon Menschen, die auf Straßen starren
Yusuke blickt aus dem Fenster. Unter der Stimme seiner verstorbenen Frau fliegen Häuser, Bäume und das Meer an ihm vorbei. Er bemerkt nicht, dass vor ihm noch eine weitere Person in dem roten Saab 900 Turbo sitzt, während er die Lücken in den Sätzen mit seinen eigenen Worten füllt. Dabei wird Misaki ihn schon bald an einen Ort fahren, an dem er endlich zu sich selbst finden kann.
Ich habe gestern Abend nun bereits zum zweiten Mal Drive My Car von Ryusuke Hamaguchi gesehen. Das mit dem Oscar als Bester internationaler Film ausgezeichnete Werk basiert auf der gleichnamigen Kurzgeschichte aus Haruki Murakamis im Jahr 2014 erschienenen Buchs Von Männern, die keine Frauen haben und erzählt die Erlebnisse zweier Menschen, deren schicksalhafte Begegnung niemand voraussehen hätte können - am wenigsten sie selbst.
Yusuke Kafuku, gespielt von Hidetoshi Nishijima, ist ein erfolgreicher Bühnenschauspieler und Regisseur, der mit der geheimnisvollen Oto, verkörpert von Reika Kirishima, verheiratet ist, einer schönen Dramatikerin, mit der er trotz einer schmerzhaften Vergangenheit ein friedliches Leben teilt. Als Oto plötzlich stirbt, bleibt Yusuke mit unbeantworteten Fragen und dem Bedauern zurück, dass er sie nicht wirklich verstehen konnte - und es auch nicht wollte.
Zwei Jahre später nimmt Yusuke, der immer noch mit Otos Tod zu kämpfen hat, das Angebot an, bei einer Inszenierung von Onkel Wanja in Hiroshima Regie zu führen. Er fährt in seinem geliebten feuerroten Saab 900 Turbo in die Großstadt im Westen, wo er bei seiner Ankunft zu seiner Überraschung und Enttäuschung erfährt, dass er aus rechtlichen Gründen gezwungen ist, Misaki Watari, zum Leben erweckt von der großartigen Toko Miura, eine junge Chauffeurin, die eine eigene traumatische Vergangenheit verbirgt, sein Auto fahren zu lassen.
Die Proben schreiten voran, und schließlich entwickeln Yusuke und Misaki eine Routine, wobei der Saab für Fahrerin und Passagier immer mehr zu einem unerwarteten Beichtstuhl wird. Weniger angenehm ist für Yusuke jedoch die Entscheidung, Koji Takatsuki, gespielt von Masaki Okada, einen gut aussehenden jungen Fernsehschauspieler mit einer unerwünschten Verbindung zu seiner verstorbenen Frau, für die Hauptrolle zu engagieren.
Je näher die Premiere rückt, desto größer werden die Spannungen zwischen den Darstellern und der Crew, und Yusukes zunehmend intime Gespräche mit Misaki zwingen ihn dazu, sich unbequemen Wahrheiten zu stellen und eindringliche Geheimnisse zu lüften, die seine Frau hinterlassen hat.
Es gibt drei Gründe, warum ich einen Film auf der Grundlage von Haruki Murakamis Kurzgeschichte Drive My Car drehen wollte,
verrät der Regisseur Ryusuke Hamaguchi. Zum einen geht es darin um Kafuku und Misaki und um die Interaktionen zwischen diesen beiden faszinierenden Figuren. Und diese Interaktionen finden in einem Auto statt. Diese Schilderungen weckten in mir Erinnerungen an intime Gespräche, die nur in diesem abgeschlossenen, sich bewegenden Raum entstehen können. Weil es ein sich bewegender Raum ist, ist er eigentlich nirgendwo, und es gibt Zeiten, in denen dieser Ort uns hilft, Aspekte von uns selbst zu entdecken, die wir noch nie jemandem gezeigt haben, oder Gedanken, die wir vorher nicht in Worte fassen konnten.
Als Nächstes beschäftigt die Kurzgeschichte sich mit dem Thema Handeln,
fährt Ryusuke fort. Schauspielern heißt, mehrere Identitäten zu haben, was sozusagen eine gesellschaftlich akzeptierte Form des Wahnsinns ist. Es als Beruf auszuüben, ist natürlich zermürbend und führt manchmal sogar zu Nervenzusammenbrüchen. Aber ich kenne Menschen, die keine andere Wahl haben, als es zu tun. Und diese Menschen, die für ihren Lebensunterhalt schauspielern, werden tatsächlich durch diesen Wahnsinn geheilt, der es ihnen ermöglicht, weiterzuleben. Diese Art von Schauspielerei als eine Art Überlebensstrategie ist etwas, das mich schon lange interessiert.
Und: Der letzte Faktor ist die zweideutige Figur namens Takatsuki und die Art, wie seine Stimme dargestellt wird. Kafuku ist sich ziemlich sicher, dass Takatsuki mit seiner Frau geschlafen hat, bevor sie starb, und er hält den Mann für einen nicht besonders geschickten Schauspieler. Doch eines Tages deckt Takatsuki Kafukus blinden Fleck auf. Wenn wir hoffen, einen anderen Menschen wirklich zu sehen, müssen wir damit beginnen, in uns selbst zu schauen, sagt er, und der Grund, warum diese ziemlich stereotype Bemerkung Kafuku am Boden zerstört, ist, dass er intuitiv spürt, dass es sich um eine Wahrheit handelt, zu der er allein nie hätte gelangen können. Seine Worte waren klar und voller Überzeugung. Er hat nicht geschauspielert, so viel ist sicher.
Ich dachte: Ich kenne solche Stimmen,
erklärt der Filmemacher. Ich habe sie schon im wirklichen Leben gehört. Außerdem wusste ich, dass man, wenn man eine solche Stimme hört, nicht mehr derselbe sein kann wie vorher und dass man verpflichtet ist, auf das zu antworten, was diese Stimme von einem verlangt. Die Kurzgeschichte ging nicht darauf ein, was danach geschah - ich hatte das Gefühl, dass Kafukus Antwort noch nicht dargestellt worden war.
Doch warum hat Ryusuke sich gerade dieses Material für sein Werk ausgesucht? Als ich mit der Arbeit an der Verfilmung dieser Kurzgeschichte voller faszinierender Elemente begann, wollte ich diese Fragen und Antworten als eine Kette von Stimmen entfalten, die die Wahrheiten enthalten, wie sie in der Geschichte dargestellt wird, um zu Kafukus endgültiger Antwort zu gelangen. Dabei ging es auch darum, eine Erfahrung für das Publikum zu schaffen, die es ihm ermöglicht, die Wahrheit durch die Fiktion, die das Schauspiel darstellt, kontinuierlich und intuitiv zu spüren. Schafft der Film Drive My Car das? Ich weiß es nicht. Ich denke, die Antwort auf diese Frage wird noch lange auf sich warten lassen.
Ich bin froh, dass ich Drive My Car nun bereits zum zweiten Mal gesehen habe, schließlich steckt man mit jeder neuen Begegnung andere Erwartungen in die Figuren, deren Denken und Handeln Spiegelbilder unseres eigenen Verständnisses des humanen Miteinanders zu sein scheinen. Der Charakter von Misaki erinnert mich nun zum Beispiel vage an einen Menschen, den ich erst vor Kurzem kennengelernt habe. Seine nüchterne, entwaffnende und scharfsinnige Art lädt dazu ein, mehr über ihn erfahren zu wollen. Was denkt er? Warum denkt er so? Und wer oder was hat ihn zu dem gemacht, der er heute ist?
Die dahin fließenden Gespräche in Drive My Car sind wie intime Tänze, deren Intention es ist, Brücken zum Gegenüber zu schlagen. Stein für Stein, Meter für Meter. Mit jedem neuen Tag, der in Hiroshima anbricht, ergibt sich die Chance, dass zwei Menschen sich ein bisschen weiter dem Gegenüber öffnen, nur um mit neuen Erkenntnissen belohnt zu werden - egal wie schmerzhaft sie auch sein mögen. Und diese Erkenntnisse gelten nicht nur dem anderen Menschen, sondern eben oft auch sich selbst.
Nur wer Drive My Car nicht ansatzweise versucht hat zu begreifen, würde ihn als ruhig bezeichnen. In jeder Szene brodelt es. Yusuke, der sich den Tod seiner Frau nicht verzeihen kann und nach Antworten sucht, die es womöglich gar nicht gibt. Misaki, deren Beobachtungen nur dann zu vertrauensvollen Worten werden, wenn sie die Chancen einer weiteren Verletzung als gering einschätzt. Und Koji, dessen Suche nach Sinn nur andere retten kann, nicht aber sich selbst.
Die punktuell eingesetzte Musik von Eiko Ishibashi vertreibt in den richtigen Augenblicken die absolute Stille, die ansonsten lediglich durch Blicke, Berührungen und Gespräche unterbrochen wird. Weitläufige Kamerafahrten über die herbstlich japanische Kulisse lassen die Figuren wie in einem Diorama wirken und ihre Wünsche, Hoffnungen und Träume klein und einsam erscheinen.
Eine Metaebene durchfließt den ganzen Film: Die Geschichte des Onkel Wanja, der in dem weltbekannten Stück von Anton Tschechow mit seinem Leben und seinen Fehltritten konfrontiert wird. Die Figur des Wanja steht für jemanden, der sein Leben damit verbracht hat, auf etwas hinzuarbeiten, das nie verwirklicht wurde. Es ist eine Reflexion der Zeit und der Emotionen, die vergeudet wurden, ein Thema, mit dem sowohl Yasuke als auch Misaki sich im Laufe des Films auseinandersetzen, da beide ihre vergangenen Beziehungen zutiefst bedauern.
Drive My Car ist im wahrsten Sinne des Wortes erwachsen. Seine Figuren haben jede Kindlichkeit, jede Banalität, ja, jede Spur von Lebensfreude abgelegt und versuchen sich mit letzter Kraft heil durch das Dickicht von schmerzhaften Erinnerungen zu manövrieren, nur um sich am Ende eingestehen zu müssen, dass sie vor der Vergangenheit nicht davonfahren können - auch nicht in einem roten Saab 900 Turbo.
Dienstag, der 31. Januar 2023
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