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Marcel WinatschekPhilosophische Texte über Gestaltung, Informatik und digitale Populärkultur
Our Little Sister: Vier Frauen und ein toter Vater
© Alive

Our Little SisterVier Frauen und ein toter Vater

Die drei Schwestern Sachi, Yoshino und Chika, gespielt von Haruka Ayase, Masami Nagasawa und Kaho, leben zusammen in einem großen alten Haus in der japanischen Küstenstadt Kamakura. Als sie vom Tod ihres entfremdeten Vaters erfahren, beschließen sie, zu seiner Beerdigung aufs Land zu fahren. Dort treffen sie zum ersten Mal auf ihre schüchterne Halbschwester Suzu, dargestellt von Suzu Hirose, mit der sie sich schnell anfreunden und sie einladen, bei ihnen zu wohnen. Suzu willigt begeistert ein und beginnt ein neues Leben mit ihren älteren Schwestern.

Inmitten der kunterbunten Farben der vier Jahreszeiten Kamakuras bringen die vier Schwestern sich untereinander die Vielfalt der Emotionen bei und unterstützen sich gegenseitig in den Prüfungen des Lebens, wobei sie eine ganz besondere Bindung zueinander entwickeln.

Vor dem Hintergrund des sommerlichen, im Sonnenlicht glitzernden Ozeans, des leuchtenden Herbstlaubs, einer Allee aus prächtigen, aber vergänglichen Kirschblütenbäumen, von der Regenzeit feuchten Hortensien und einem brillanten Feuerwerk, das die Ankunft eines neuen Sommers ankündigt, schildert ihre bewegende und zutiefst nachvollziehbare Geschichte die unersetzlichen Momente, die eine wahre Familie ausmachen.

Natürlich sind die Hauptfiguren des Films die vier Schwestern, beantwortet der Regisseur Hirokazu Koreeda, worum es in Our Little Sister wirklich geht. Und man kann auch sagen, dass der Film davon handelt, dass die jüngste Schwester, Suzu, ihre eigene Identität bejaht und die älteste Schwester, Sachi, ihre Eltern akzeptiert. Aber darüber hinaus, glaube ich, geht es auch um die Stadt und die Zeit, die dort jeden Tag vergeht. Wie die Gezeiten des Meeres an der Küste bleibt die Stadt im Wesentlichen unverändert, trotz des regelmäßigen Kommens und Gehens der Bewohner: Suzu, zum Beispiel, oder Frau Ninomiya oder Sachis Freund. Eines Tages in der Zukunft, wenn alle Figuren der Geschichte gestorben sind, werden andere in die Stadt kommen und einen Teil ihres Lebens dort verbringen. Es ist, als ob das Leben eines Menschen nur ein winziges Ding ist - ein Sandkorn am Strand.

War es denn schwer, die Graphic Novel Umimachi Diary von Yoshida Akimi, auf der die Geschichte basiert, in einen Film zu verwandeln? Zuerst dachte ich, ich würde einfach die Reihenfolge der Szenen umstellen. Aber nach und nach änderte ich meine Meinung und beschloss, ein Drehbuch zu schreiben, das Szenen enthält, die nicht in der Graphic Novel vorkommen. Nachdem ich mich gefragt hatte, wie ich etwas schaffen könnte, das in die Grenzen einer zweistündigen Laufzeit passt, ohne die Perspektive des Originals zu verlieren, dachte ich, dass es besser wäre, die Schauplätze und Figuren zu begrenzen und stattdessen Episoden hinzuzufügen. Die Entscheidung, Frau Ninomiya vom Sea Cat Diner in den Mittelpunkt der Geschichte zu stellen, wurde zum Beispiel getroffen, damit sie die Rolle von Figuren übernimmt, die im Film nicht vorkommen. Es gab sicherlich einige Versuche und Irrtümer, aber die Richtung, die ich einschlagen würde, war klar, nachdem wir Suzu gecastet hatten.

Die fesselnden Monologe und Regieanweisungen des Buches sind beeindruckend, aber ich wollte mich nicht zu sehr auf sie verlassen, erklärt der Regisseur seine Entscheidung, sich nicht zu sehr am Originalmaterial zu orientieren. Also habe ich mir überlegt, wie gut ich diese Töne durch den Dialog und die Mimik der Figuren wiedergeben kann. Während ich Regie führte, begann die Unterscheidung zu verschwimmen. Ich fragte mich dann: War diese Szene im Original? War das etwas, das ich hinzugefügt habe? Das ist für mich der Beweis, dass ich mir den Stoff zu eigen machen konnte.

Als ich das Original las, dachte ich, es sei eine Geschichte über die Menschen um Suzu herum, die sie beobachten, führt Hirokazu seine eigene Handschrift fort. Aber im Film wollte ich Sachi und Suzu als die zentralen Figuren der Geschichte positionieren. Man hat diese beiden, daneben Yoshino und Chika, und man hat Figuren wie die Mutter, die Großtante und Ninomiya um sie herum... Ich habe mir überlegt, wie diese Leute um Sachi und Suzu herum angeordnet werden sollten. In gewisser Weise denke ich, dass dies eine Geschichte über Frauen ist.

Untermalt von der wundervollen Musik der legendären Ausnahmekomponistin Yoko Kanno, die sich bereits für den Soundtrack von Werken wie Tokyo Sora, Petal Dance und Kamikaze Girls verantwortlich zeigte, fühlt man mit den vier Schwestern und ihren Herausforderungen in allen Szenen mit. Jeder Tastendruck des Pianos hat eine Bedeutung, jeder Strich der Geige erzählt eine Geschichte.

Frau Nagasawa schlug mir Yoko Kanno vor, als ich am Set überlegte, was wir mit der Musik machen sollten, erzählt Hirokazu Koreeda über die Zusammenarbeit. Die erste Idee, die wir hatten, war, die vier Schwestern durch ein Streichquartett darstellen zu lassen, für jede Schwester ein Instrument zu bestimmen und alles am Ende zusammenzufügen. Wir haben einige ihrer früheren Musikstücke mit dem gedrehten Material abgeglichen, und es klang großartig, so dass ich beschloss, sie zu bitten, an der Musik zu arbeiten.

Doch geht es in Our Little Sister nun primär um die Vergangenheit oder doch auch eher um die Zukunft? Der Film ist auch eine Geschichte über den Vater, Suzus Mutter, die Großmutter, Menschen, die nicht mehr da sind, beantwortet Hirokazu Koreeda auch diese Frage geduldig. Es war eine schwierige Aufgabe, die Spuren dieser Menschen durch das Verhalten der Figuren, durch Dialoge, und Dinge wie das Toastbrot, anstelle von Rückblenden darzustellen und zu zeigen, wie sich ihre Gefühle gegenüber diesen Menschen auf die Schwestern auswirken würden. Ich habe die Szene mit den gebratenen Makrelen aufgenommen, weil ich zeigen wollte, wie etwas weitergegeben wird, auch wenn es nicht mehr da ist. Ich denke, ein wichtiges Element des Films ist, dass ein Teil von ihm die Zukunft im Blick hat.

Our Little Sister ist ein luftig leichtes, aber doch vor Kummer durchtränktes Drama über Menschen in verschiedenen Lebenssituationen, die zwar von der Vergangenheit gezeichnet sind, aber sich ihr Schicksal dennoch nicht von ihr diktieren lassen. Sachi, Yoshino und Chika zögern keine Sekunde, ihre kleine Halbschwester Suzu bei sich aufzunehmen und ihr so eine Familie zu bieten, die sie niemals hatte.

Wenn die vier jungen Frauen dann nach einer weiteren Prüfung am Strand stehen und lachend in die Ferne blicken, ist man froh, sie und die anderen Bewohner der kleinen Stadt kennengelernt zu haben und Teil der freudigen wie traurigen Veränderungen gewesen zu sein. Und man hofft, dass die Zukunft der vier Schwestern so sehr strahlen wird, wie das kleine Feuerwerk, das kurz zuvor noch den wild bewachsenen Garten des großen alten Hauses erleuchtet hat.

Montag, der 13. Februar 2023

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