Tetsushi Tsuruki: Mädchen in Tokio
Marcel Winatschek
Für viele von uns ist Japan das Land der tausend Träume, ein fernes Paradies, in dem Hoffnungen wahr und Sorgen vertrieben werden. Die Realität ist in diesem Gedankenkonstrukt oft nur ein Hindernis, in unserer Fantasie erschaffen wir eine fernöstliche Parallelwelt, in der wir endlich glücklich sind - egal wie sehr die harten, kalten Fakten auch dagegen sprechen. Denn Japan ist kein Wunderland, kein kunterbunter Fiebertraum, der Inselstaat am anderen Ende der Erde ers…

Tetsushi TsurukiMädchen in Tokio
Für viele von uns ist Japan das Land der tausend Träume, ein fernes Paradies, in dem Hoffnungen wahr und Sorgen vertrieben werden. Die Realität ist in diesem Gedankenkonstrukt oft nur ein Hindernis, in unserer Fantasie erschaffen wir eine fernöstliche Parallelwelt, in der wir endlich glücklich sind - egal wie sehr die harten, kalten Fakten auch dagegen sprechen.
Denn Japan ist kein Wunderland, kein kunterbunter Fiebertraum, der Inselstaat am anderen Ende der Erde erscheint bei näherem Hinsehen als zerrissene Nation voller gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und auch im tiefsten Sinn menschlicher Probleme.
Der japanische Fotograf Tetsushi Tsuruki zeigt uns sein Heimatland von einer gänzlich ungeschminkten Seite. Keine Filter, keine falschen Erwartungen. Japan ist hier lediglich eine Kulisse, mit Menschen bestückt, die sich längst ihrer äußeren Hüllen, und damit dem sozialen Schutz, entledigt haben.
Tetsushi leuchtet mit dem Blitzlicht seiner Kamera tief in die humanen und zerbrochenen Seelen seiner Protagonisten. In diesem alternativen Paradies herrscht die Wahrheit in ihrer pursten kreativen Form. Wer hier überlebt, der weiß um die Herausforderungen seiner Umwelt.
In Tetsushis Realität sehen wir blutbeträufelte Hotelbettlaken, nackte Mädchen im Badewasser, den blauweißen Himmel über den niemals zu enden scheinenden Hochhäusern Tokios. Seine Reisen führen ihn in die hintersten, versteckten und von bloßem Auge schnell übersehenen Ecken einer Stadt, die niemals schläft, deren verschmutzte Reinheit erst nach dem Sonnenuntergang sichtbar wird.
Hinter den stumpfen, schwarzen Fenstern der mit Leuchtreklamen bestückten Fassaden verewigt er Momentaufnahmen eines Landes der tausend Träume, ein fernes Paradies, in dem Hoffnungen wahr und Sorgen vertrieben werden. Wenn man sich denn vollends bewusst ist, gegen welche Realität man seine eigene tauscht.
Freitag, der 29. Mai 2015
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