Berlin im Herbst: Wie ein guter Freund, der im Sterben liegt
Marcel Winatschek
Dass der Sommer vorbei geht, das bleibt in Berlin nie lange unbemerkt. Obwohl die Sonne noch versucht, uns mit wärmender Güte zu täuschen. Das Atmen fällt schwer, wenn wir hastig durch die Gassen eilen. Die Blätter werden gelb, wenn sie den Kampf gegen die unaufhaltsame Zeit verlieren. Die Herzen werden kälter, wenn wir ihre Güte benötigen. Berlin im Herbst, das ist wie ein guter Freund, der im Sterben liegt. Wir nehmen uns mehr Zeit, um uns darüber klar zu werden, w…

Berlin im HerbstWie ein guter Freund, der im Sterben liegt
Dass der Sommer vorbei geht, das bleibt in Berlin nie lange unbemerkt. Obwohl die Sonne noch versucht, uns mit wärmender Güte zu täuschen. Das Atmen fällt schwer, wenn wir hastig durch die Gassen eilen. Die Blätter werden gelb, wenn sie den Kampf gegen die unaufhaltsame Zeit verlieren. Die Herzen werden kälter, wenn wir ihre Güte benötigen.
Berlin im Herbst, das ist wie ein guter Freund, der im Sterben liegt. Wir nehmen uns mehr Zeit, um uns darüber klar zu werden, was wir wirklich wollen, im Leben. Wir gehen weniger aus, stürzen uns kopfüber in die Arbeit, um zu verdrängen, um uns zu beschäftigen, um etwas zu bewegen, wie sollen wir sonst eine Erinnerung schaffen?
Wenn die Bäume erst einmal kahl und die Straßen farblos sind, kommt die Hässlichkeit der Stadt zum Vorschein. Eine Hässlichkeit, der wir uns sonst, unter all dem Lachen und der Musik und der Aufregung, gar nicht bewusst sind, aber von der wir wissen, dass sie existiert, weil sie ihr Gesicht immer dann zeigt, wenn nichts mehr sie verdecken kann.
Plötzlich wandeln wir wieder durch die seelenlose Mischung aus maroden Gebäuden und korrupter Architektur, aus verschmierten Wänden und verlorener Scheiße, aus schwarz gekleideten Massen und einem grauen Firmament. Mit jedem Herbstanfang weicht das pure Leben aus der Stadt, der Puls wird ruhiger, das Adrenalin versiegt, die Nächte scheinen unendlich.
Der Bass zieht sich in den Untergrund zurück. Eingefallene Wesen, die an diesen Ort geflohen sind, um zu vergessen, suchen Schutz vor der angebrochenen Klarheit. Kein Licht im Kopf, nur kein Licht im Kopf. Was sie gesehen haben, soll im Dunkeln verbleiben, sie feiern nicht, um zu feiern, sondern um zu überleben. Der Herbst, das ist ihr Feind.
Junge und Alte, sie spüren es, Gäste und Bewohner, sie wissen es. Wenn der Sommer geht, an einen besseren Ort, dann stiehlt er dieses eine Gefühl. Das Gefühl, das wir hatten, als wir zum ersten Mal einen Fuß in diese Stadt gesetzt haben. Das uns befeuerte und uns den Zweifel nahm. Den Zweifel daran, dass hier unser neues Leben beginnt. Ganz sicher.
Während dem Winter ein Ende innewohnt, das wir alle wortlos akzeptieren, scheint uns der Herbst zu verhöhnen. Wir zerren an ihm wie ein kleines Kind, nein, bitte nicht, das darfst du nicht, lass die Freude da, lass das Leben da, lass den Sinn da. Doch er schaut nur ruhig auf uns herab und zieht seine ewige Runde – daran können auch wir nichts ändern.
Berlin im Herbst, das ist wie ein guter Freund, der im Sterben liegt. Uns bleibt nichts anderes übrig, als leise von ihm Abschied zu nehmen und ihm zu schwören, dass wir auch ohne ihn ein gutes Dasein führen werden. Ein erfülltes, ein ehrbares, ein unvergessliches. Die Hand, die wir halten, sie löst sich auf. Und uns bleibt nichts. Außer dem Andenken.
Wir treten nach draußen. Die Bäume sind kalt, die Straßen sind farblos. Kein Lachen, keine Musik, keine Aufregung. Schwarz gekleidete Körper schreiten rasch an uns vorbei. Dass sie gerade noch nackt am Strand getanzt haben, mit der verlorenen Liebe in der einen und einem gekonnt gerollten Joint in der anderen Hand, das scheinen sie vergessen zu haben. Nicht nur die Nächte werden kälter.
Im Herbst werden unsere Zweifel wieder lauter. Ob es wirklich eine gute Idee war, unser altes Leben fortzuwerfen, um hier von Neuem zu beginnen, fragen wir uns dann. Ob Berlin die richtige Wahl war, zwischen all den Möglichkeiten und Chancen und Städten. Ob wir mit dem, was wir jetzt, in diesem Augenblick, machen, wirklich, wirklich, wirklich zufrieden sind.
Wenn der Sommer die Ablenkung ist, dann ist der Herbst der Spiegel. Einer, dem wir uns nur schwer entziehen können. Wir blicken hinein und sehen nur uns selbst. Kein noch so guter Freund kann sich zwischen ihn und uns drängen, was wir dort sehen, das sind wir, niemand sonst. Und er will nur eine Antwort von uns, jedes Mal aufs Neue: Haben wir diese Stadt erobert – oder uns lediglich von ihr verschlucken lassen?
Als wir im Café auf die dunklen Gestalten starren, deren Existenz nur durch die Suche nach dieser Antwort gerechtfertigt wird, wird uns bewusst, dass das Ende der heißen Tage nicht unser Ende bedeuten muss. Und dass wir mehr können, als das Versprechen abzugeben, dass wir den nächsten Sommer, sofern wir ihn erleben, besser nutzen als den jetzigen.
Mehr Partys, mehr Drogen. Mehr Liebe, mehr Sex. Mehr Erfolg, mehr Geld. Was dieser Sommer nicht ermöglichen konnte, aufgrund welcher Ausreden auch immer, das soll der nächste gefälligst bieten. Aber das wird er nicht. Schließlich sind wir selbst daran schuld, dass wir die schweißgetränkten Tage und die hitzigen Nächte nicht genutzt haben. Sonst niemand.
Wir verschwenden nicht nur Lebensmittel oder Rohstoffe oder Geld, wir verschwenden Zeit. Zeit, die wir hätten nutzen können, um unser tristes Dasein mit Augenblicken zu füllen, die sich kurz vor unserem Ableben in einer gigantischen, monumentalen, mit Orchestermusik unterlegten Zusammenfassung abspielen wird. Doch momentan ist sie noch erschreckend leer.
Berlin im Herbst, das ist wie ein guter Freund, der im Sterben liegt. Bevor er die Augen schloss, mussten wir ihm ein Versprechen geben. Das Versprechen, nicht nur darauf zu warten, dass er wieder kommen würde, sondern die Zeit bis dahin nicht wertlos verebben zu lassen. Egal ob die Bäume kahl und die Straßen farblos sind. Schließlich fordert der Spiegel eine Antwort.
Freitag, der 15. Juli 2016
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