Das Ende von AMY&PINK: Als die Stimme einer ganzen Generation verstummte
Marcel Winatschek
Selbst heute fragen mich noch mehr oder weniger fremde Menschen per Email, Brief und Rufen durchs offene Fenster, was eigentlich mit AMY&PINK passiert ist. Dem Portal der guten Laune. Dem Partyschiff der Berliner Zugezogenen. Der Stimme einer Generation, die niemals erwachsen werden wollte, drei Tage im Berghain durchfeierte und eines Morgens in den Trümmern ihrer eigenen Realitätsverweigerung aufwachte. „Der krude Themen-Mix von Vice hat Schule gemacht, au…

Das Ende von AMY&PINKAls die Stimme einer ganzen Generation verstummte
Selbst heute fragen mich noch mehr oder weniger fremde Menschen per Email, Brief und Rufen durchs offene Fenster, was eigentlich mit AMY&PINK passiert ist. Dem Portal der guten Laune. Dem Partyschiff der Berliner Zugezogenen. Der Stimme einer Generation, die niemals erwachsen werden wollte, drei Tage im Berghain durchfeierte und eines Morgens in den Trümmern ihrer eigenen Realitätsverweigerung aufwachte.
Der krude Themen-Mix von Vice hat Schule gemacht, auch in der deutschen Blog-Landschaft,
verglich Hannah Lühmann uns einst in der Frankfurten Allgemeinen Zeitung mit einem gehirntoten Zombiemedium, das heute mit peinlichen Horoskopen, irrelevanten Aufregern und bezahlten Partnerlinks für Vibratoren aus dem letzten Loch pfeift wird. AMY&PINK etwa, das extrem erfolgreiche Blog von Marcel Winatschek, das als Bild-Zeitung der Hipster gilt, gehört zu den Epigonen. Weil es sich intensiv mit den Brüsten diverser A- bis F-Promis auseinandersetzt, allerdings in diesem bei Vice abgeschauten schludrigen Gestus zwischen Dauerlangeweile und permanenter Erregung.
Und weiter: Auf AMY&PINK erfahren die Leser, dass der Konsum von Crystal Meth sie in „faule Zombies“ verwandeln werde, dass „dämlich dreinblickende Vierbeiner“ die „wahren Helden der Nacht“ seien, weil ein amerikanischer Blogger nachts die Hunde fremder Spaziergänger fotografiert. Und sie werden aufgefordert, „den Nazis“ sowie ihren „hässlichen Freunden“ endlich das Hakenkreuz wegzunehmen, weil es eigentlich ein Symbol der Liebe und des Friedens sei. Das Blog wird vor allem von jungen Großstädtern gelesen, seine ironische Grundhaltung gilt der gesellschaftlichen Gesamtsituation ebenso wie dem jüngsten Youtube-Hit.
Die reflexive Antwort auf die überaus individuelle Frage, warum es AMY&PINK nicht mehr gibt, ist: Keine Ahnung.
Und das wäre nicht einmal gelogen. Ich weiß es nämlich wirklich nicht. Vielleicht hat es sich irgendwann einfach so ergeben. Vielleicht gab es keinen Platz mehr dafür in der heutigen Medienwelt. Vielleicht müssen Dinge auch einfach irgendwann enden, bevor sie aus nicht nachvollziehbaren Gründen (noch länger) künstlich am Leben gehalten werden.
AMY&PINK erblickte im Jahr 2007 als Nachfolger meines damaligen privaten Blogs Tokyopunk das Licht der Welt, als ich mich gerade auf den Weg nach Berlin machte, um dort meine Ausbildung zum digitalen Mediengestalter im Bereich Konzeption und Visualisierung bei der Aperto AG zu beginnen. Alles war neu, alles war aufregend, alles in meinem Leben drehte sich plötzlich um die deutsche Hauptstadt und die kunterbunten Menschen, die darin herumwuselten.
Ich befüllte mein neues Projekt mit privaten Geschichten, Fundstücken aus dem Internet und dem ein oder anderen frischen Musikvideo und fand mit charismatischen Schreibern wie Hannah, Caro, Ines, Misha, Wenke, Sara, Meltem, Jana, Daniela und Leni leidenschaftliche Autoren, um die Seite immer wieder auf die nächste Stufe zu hieven. AMY&PINK verwandelte sich von einem kleinen Blog zu einem der meist gelesenen Onlinemagazine der Nation.
In den ersten Jahren der neuen Dekade war AMY&PINK die digitale Anlaufstelle für junge Rebellen, Hipster und Avantgardisten - und solche, die genau das sein oder zumindest wissen wollten, was diese Chaoten nun schon wieder für Unsinn erlebten und verzapften. Wir wurden von Marken wie Mercedes, Microsoft und der Deutschen Telekom auf Events in ganz Deutschland und der Welt eingeladen.
New York, Toronto, London. Rom, Shenzhen, Los Angeles. Lissabon, Monaco, Las Vegas. Um uns dort mit Kendrick Lamar, Tokio Hotel und Frank Ocean zu betrinken. Und das alles nur, weil wir seltsame Dinge ins Internet schrieben, dabei ständig Schimpfwörter verwendeten, und es Leute gab, die genau das auch lesen wollten. Und ab und zu gab es auch entblößte Brüste zu sehen. Oder kotzende Mädchen. Oder Hakenkreuze aus Kokain. Je provokanter, desto besser.
Die Presse liebte und hasste uns zugleich - ähnlich wie die Leser. AMY&PINK gelingt es zu schocken
, schrieb zum Beispiel die Welt über uns. Die einzige Frage, die unbeantwortet bleibt: Wer sind Amy & Pink?
, rätselte die Süddeutsche Zeitung. So treffsicher erfolgreich war seit langem kein Schreibprodukt im Internet
, lobte uns Les Mads. Ein Grinsen beim beim Lesen ist garantiert
, meinte Uberding. Die hohe Quote nackter Frauen lässt AMY&PINK an den blog-gewordenen Schulmädchenreport des 21. Jahrhunderts erinnern
, beschrieb uns The Stiller. Der Klassiker. Weil: Gute Mischung, Themenvielfalt, abwechslungsreich. Muss man einfach mögen
, bewertete uns Indigoidian.
Als ich mir einmal in Kreuzberg das Taxi mit einer willkürlich am Wegesrand stehenden Schweizer Studentin teilte und sie mich fragte, was ich denn so mache, bekam sie bei meiner Antwort große Augen: AMY&PINK, das kenne ich, das lese ich jeden Tag!
Und der Typ, der beim Melt Festival die Pressetickets kontrollierte, meinte beim Blick darauf nur: AMY&PINK? Ist das nicht dieses Tittenmagazin?
Selbst in Prag kannte ein Mädchen auf einer Party die Seite. Ich liebte diese zufälligen Begegnungen.
AMY&PINK bietet wie wohl kein anderes deutsches Blog den Rohstoff für gelangweilte Teenager, die in ihrer Filterbubble aus iPhone, Facebook, Buzzfeed aber auch Miley Cyrus und Youporn groß geworden sind
, versuchte Nils Jacobsen uns bei Meedia zu beschreiben. In der Welt von AMY&PINK geht es weniger um die Mädchen an sich, sondern um die Mädchen in der männlichen Vorstellungswelt, die im Social Media-Zeitalter ein unerschöpfliches Arsenal bekommen. Es ist eine Welt des schnellen, immer verfügbaren Sex, auch wenn der gerade real nicht verfügbar ist – YouPorn geht schließlich immer.
Und weiter: Es ist eine virale Welt, die traditionelle Medien komplett verschlafen haben – und auch das Sprachrohr der etwas anspruchsvolleren jüngeren Generation – Neon – oft nur streift. Zuletzt hatte sich das G+J-Blatt einmal mutig an das Tabu-Thema Masturbation herangewagt – bei AMY&PINK werden dagegen direkt Vorlagen geliefert. Die Nachwuchsschreiber können sich täglich aufs Neue an den Skandälchen abarbeiten, die in der Popwelt so passieren.
So trashig, kalkuliert und sprachlich limitiert das Berliner Blog auch oft daherkommt – es trifft doch in seiner Direktheit eindeutig mehr den Zeitgeist der jüngeren Social Media-Generation, die ihre Zeit inzwischen bei YouPorn und BuzzFeed verbringt als bei Playboy oder Spiegel Online
, so Nils weiter.
Und: Der Zeitgeist hat sich in den vergangenen Jahren schleichend, aber doch radikal geändert. Für die Anfangzwanzigjährigen lautet er: Pornos sind ok. Schneller Sex ist ok. Sasha Grey und Miley Cyrus sind ihre Protagonistinnen – nicht der Grand Prix Eurovision und Lena. AMY&PINK ist der konsequenteste Stenograf des neuen pornografischen Internet-Zeitalters: Jeder kann heute alles sehen – und jeder sieht heute alles. Und Marcel Winatschek ist der bloggende Pimp der Generation Miley Cyrus, der den 18-Jährigen immer neues Futter zuführt – geschrieben von eben jenen 18-Jährigen.
Das Problem wurde leider, dass ich AMY&PINK kontinuierlich in eine Spirale des What the Fucks hineinmanövrierte, aus dem ich die Seite schon bald nicht mehr herausbekam. War anfangs noch alles witzig, ironisch und over the top, hielt irgendwann eine vollkommen an den Haaren herbeigezogene Professionalisierung des Inhalts Einzug. Einerseits mussten wir noch krasser als alle anderen sein, um die Leser bei der Stange zu halten, andererseits forderten die Werbekunden weniger entblößte Geschlechtsteile auf der Startseite.
Hinzu kam, dass die Wild-West-Zeiten des Internets Mitte der Zweitausendzehner Jahre vorbei waren. Jeder bildhafte Inhalt, der nicht vertraglich vom Urheber, Rechteverwerter und am besten drei bis drölf zusätzlichen Anwälten abgesegnet wurde, durfte nicht veröffentlicht werden. Die Seite verlor ihren visuellen Biss, weil alles nur noch aus offiziellen Pressefotos bestand, die Texte wurden immer absurder und realitätsferner, AMY&PINK verwandelte sich vom strahlenden Rockstar zu einem abgehalfterten Irren, der fremden Leuten besoffen auf der Straße laut lallend versicherte, dass er immer noch cool war - wirklich jetzt, ihr, rülps, dummen Fotzen!
Lange bevor ich selber durch Twitter plötzlich irgendwie im Schaufenster der digitalen Welt stand, mochte ich AMY&PINK
, erzählte Marie von den Benken der Netzwirtschaft. Aber als Hannah Maria Paffen noch da war. Ich war sehr jung und hoffte auf Castings bei der Fashion Week. Und sie durfte als Bloggerin hinfahren. Damals hatte ich von „Bloggern“ so viel Ahnung wie Boris Becker von seriöser Liquiditätsplanung und dachte, das sind in erster Linie verwöhnte Gören, die zu viel Geld in Markenklamotten stecken, in denen sie sich dann fotografieren.
Und weiter: Hannah dagegen zeigte sich ehrlich überwältigt davon, dass ein Unternehmen sie nach Berlin fliegen wollte, damit sie sich eine Fashion-Show ansieht und ich begann, alle ihre Texte zu lesen. Das muss so 2007 gewesen sein. Irgendwann ging sie und AMY&PINK wurde zum Stefan Effenberg der Coming of Age Blogs. Früher mal Weltklasse, aber heute wünscht man sich jemanden, der ihm hin und wieder mal sagt: Bleib doch einfach mal zu Hause und genieße die Gedanken an die schöne Zeit.
Mit den Abgängen der Autoren von AMY&PINK verschwand auch die Stimmvielfalt, die lange Zeit für den inhaltlichen Ausgleich auf der Seite sorgte. Für jede Fotoserie über fickende Jugendliche gab es vor dem Verfall einen intimen Text über Liebeskummer, für jedes LSD-durchtränkte Musikvideo einen amüsanten Reisebericht, für jede skurrile Nichtigkeit eine Geschichte über die kleinen und großen Erlebnisse derjenigen, die sich AMY&PINK als das Medium ausgesucht hatten, um sich dort digital zu verwirklichen. Schließlich hätten sie ihre Texte auch in der NEON, in der VICE oder im Lokalblatt von Buxtehude veröffentlichen können. Doch irgendwann gab es eben nur noch inhaltsleere Schockartikel. Auffallen, um jeden Preis, als es schon lange niemanden mehr interessierte.
Ich habe versucht, AMY&PINK zu retten. Wirklich. Nicht Gott ist mein Zeuge, sondern Hannah, ohne die ich womöglich längst in meinem eigenen Wahnsinn ertrunken wäre. Die Arme musste sich das Drama jeden Tag anhören, über Jahre hinweg. Da muss man doch noch was draus machen können!
, Das kann es doch nicht gewesen sein!
, Vielleicht doch noch mal auf Englisch probieren?
Ich war in einem ewig währenden Kreislauf des Grübelns, des Zweifelns und des Ausprobierens gefangen.
Wäre ich auch nur einen Hauch so cool, wie ich es immer in meinen unzähligen Artikeln vorgegeben habe zu sein, hätte ich AMY&PINK schon vor Jahren mit Benzin übergießen, anzünden und in filmhafter Zeitlupeneinstellung hinter mir explodieren lassen sollen, während ich irre lächelnd in Richtung Kamera gehe. Aber ich bin nicht cool. Und ich kann auch nicht so einfach loslassen. Schließlich waren die Besucherzahlen weiterhin ganz gut, der jahrelang aufgebaute Content wurde fleißig geklickt und jeder SEO-Experte wäre froh über solche Metriken gewesen.
Doch am Ende habe ich viel zu viel Zeit in die Rettung von AMY&PINK gesteckt, die ich lieber in wichtige Dinge investieren hätte sollen. Mir einen richtigen Job suchen, zum Beispiel. Kinder kriegen, Bäume pflanzen, Häuser bauen, was weiß ich. Nur um mir irgendwann doch einzugestehen, dass das mit AMY&PINK nichts mehr wird. Nicht, weil die Webseite an sich nicht mehr funktionierte, sondern weil ich aus der ganzen Sache herausgewachsen war und es endlich Zeit wurde, Abschied zu nehmen. AMY&PINK hatte mir irgendwann einmal Spaß gemacht und nun eben nicht mehr. Und keine Klickzahlen dieser Welt konnten an diesem Gefühl etwas ändern.
Eines schönen Morgens setzte ich mich also mit einem heißen Kaffee vor meinen Laptop, machte ein Backup der Seite und löschte sie dann vom Server. Und ich spürte nichts dabei. Gar nichts. Ich war einfach ausgefühlt, was das Thema angeht. AMY&PINK war tot. Und mir war's egal. Ich trank meinen Kaffee aus, stand auf und ging spazieren.
Selbst heute fragen mich noch mehr oder weniger fremde Menschen per Email, Brief und Rufen durchs offene Fenster, was eigentlich mit AMY&PINK passiert ist. Dem Portal der guten Laune. Dem Partyschiff der Berliner Zugezogenen. Der Stimme einer Generation, die niemals erwachsen werden wollte, drei Tage im Berghain durchfeierte und eines Morgens in den Trümmern ihrer eigenen Realitätsverweigerung aufwachte.
Die reflexive Antwort auf die überaus individuelle Frage, warum es AMY&PINK nicht mehr gibt, ist: Weil es mir keinen Spaß mehr gemacht hat.
Und es hat lange gedauert, bis ich mir eingestehen konnte, dass dieser Grund allein dafür ausreichte, um es zu beenden, obwohl die Logik etwas anderes sagte.
Stattdessen habe ich jetzt wieder meinen eigenen kleinen Blog, den ich mit Inhalten füllen kann, die mich wirklich interessieren, und bei denen es egal ist, ob ich der Einzige bin, der das liest oder gut findet. Hier ist es einerlei, ob ich über meine aktuelle japanische Lieblingsband schreibe oder eine Kurzgeschichte über eine Stadt am Ende der Welt veröffentliche. Ich kann sogar den ein oder anderen Artikel von AMY&PINK hier herüber retten, wenn ich der Meinung bin, dass er ganz gut passen würde. Warum denn auch nicht? Ich kann jetzt (wieder) machen, was ich will. Hurra.
Ich habe viel von AMY&PINK und den Menschen, die auch nur irgendwas damit zu tun hatten, gelernt. Aber nun ist es Zeit, das Thema ruhen zu lassen und etwas Neues zu beginnen. Die Welt da draußen ist nämlich riesig und die Möglichkeiten, sein Glück zu finden, grenzenlos. Man muss nur den Mut haben, loszulassen, dem Ungewissen die Hand zu reichen und sich von ihm hin zu neuen Abenteuern führen zu lassen - bevor es endgültig zu spät ist.
Sonntag, der 29. Januar 2023
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