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Marcel WinatschekPhilosophische Texte über Gestaltung, Informatik und digitale Populärkultur
Das leere Herz: Ich bin ein Geist
© Dall-E

Das leere HerzIch bin ein Geist

Wenn ich möchte, kann ich mich in sehr kurzer Zeit mit sehr vielen Menschen anfreunden. Egal an welchem Ort, egal in welcher Situation, egal mit welchem Gegenüber. Dann bin ich witzig, mitreißend und so dermaßen offenherzig, als würden wir uns schon ein Leben lang kennen.

Ich teile intime Geschichten und Geheimnisse, beichte meine größten Sünden und Ängste und gebe ihnen das Gefühl, dass ich sie verstehe und jeden noch so unerreichbaren Hebel in Bewegung setzen würde, damit sie allein dadurch, mich kennengelernt zu haben, glücklicher sind. Und das, obwohl wir uns erst vor fünf Minuten zum ersten Mal getroffen haben.

Früher war ich fast schon stolz auf die Eigenschaft, meine Schüchternheit, Lethargie und soziale Phobie aktiv abschalten zu können und sie mit einem Mal ins vollkommene Gegenteil umschlagen zu lassen. Dank eines mir selbst beigebrachten Tricks, den ich spontane mentale Ablenkung nenne und dadurch funktioniert, indem man, kurz bevor man etwas Dummes oder Unlogisches tut, an etwas vollkommen anderes denkt, mache ich die mutigsten, verrücktesten und sympathischsten Dinge, ohne dies vorher noch einmal reflektieren zu können. Weil es zeitlich einfach unmöglich ist.

Diese Taten fühlen sich dann ganz natürlich und keineswegs falsch an. Und im Nachhinein bin ich immer froh, dass ich es gewagt habe, weil man dadurch an Menschen herankommt, die einem sonst verschlossen geblieben wären. Es macht Spaß, die Welt dadurch zu meinen Gunsten zu drehen. Und früher dachte ich einmal, dass diese absolute Zugänglichkeit mich zu einem besseren, vollkommeneren und, ja, auch beliebteren Menschen macht.

Durch diesen systemabweichenden Charakterzug war ich schnell maßgeblicher Bestandteil von vielen unterschiedlichen Freundeskreisen, die sich teils nur durch mich formten. Ich freute mich, wenn Leute unbedingt etwas mit mir unternehmen wollten, um meine Gunst auf Partys buhlten oder allein deshalb in mich verliebt waren, weil sie dachten, ich wäre der erste und einzige Mensch auf diesem Planeten, der sie und ihre Probleme wirklich versteht. Das Gefühl der emotionalen Überheblichkeit wurde irgendwann ganz normal für mich.

Eine erdrückende Wahrheit, die ich anfangs noch als Humbug abtat, wurde mit dem Laufe der Zeit allerdings traurige Gewissheit: Ich bin ein Geist. Ein leeres, in Fleisch gehülltes Herz ohne jeglichen Hauch von Empathie. Vor mir könnte ein Bus voller laut heulender Waisenkinder explodieren, es wäre mir nicht nur egal, nein, ich wäre sogar genervt davon, warum die kleinen Scheißer ausgerechnet jetzt gerade vor mir verbrennen und mir so akut den Weg versperren müssen.

Der einzige Grund, warum ich mich so schnell und einfach mit anderen Menschen anfreunden kann, ist, dass sie mir nichts bedeuten. Und wenn ich doch einmal den ein oder anderen Narren an jemandem gefressen habe, dann analysiere ich ihn solange und intensiv, bis ich seiner mich verrückt machenden Faszination letztendlich auf den Grund gegangen bin, nur um ihn anschließend fallen zu lassen wie eine heiße Kartoffel. Weil ich ihn leer gesuchtet habe. Und dann wird er eben, im besten Fall, langweilig oder, im schlimmsten Fall, unerträglich.

Wenn ich heute, dank der sozialen Medien, auf die unterschiedlichen Freundeskreise zurückblicke, von denen ich einmal, zumindest dachte ich das, ein fundamentaler Teil war, dann existieren diese oft heute noch - nur eben ohne mich.

Die Fotos, die sonst ihre Gesichter eng aneinander gedrückt neben dem meinigen schmückten, müssen nun, Jahre später, mit einem falschen Lächeln weniger auskommen. Aus Freunden, mit denen ich feuchtfröhliche Sommernächte verbracht und unzählige Legenden gesponnen habe, wurden, als hätte es mich gar nicht gegeben, von einem auf den anderen Tag Fremde.

Ich habe sie quasi leergesaugt und bin dann weitergezogen. Wie ein skrupelloser Emotionswanderer, der gerade noch inmitten seiner Liebsten gefühlt, gefeiert und gefickt hat und im nächsten Augenblick, wenn gerade keiner darauf geachtet hat, plötzlich verschwunden war.

Nie wieder gesehen, auf dem Weg zum nächsten Abenteuer, nur um dasselbe Spielchen wie zuvor abzuziehen - lediglich mit anderen Gesichtern. Wenigstens habe ich ein paar Fremde zueinander geführt, also hatte meine Gefühlsgier doch etwas Gutes, belüge ich mich dann selbst.

Wenn ich möchte, kann ich mich in sehr kurzer Zeit mit sehr vielen Menschen anfreunden. Egal an welchem Ort, egal in welcher Situation, egal mit welchem Gegenüber. Dann bin ich witzig, mitreißend und so dermaßen offenherzig, als würden wir uns schon ein Leben lang kennen.

Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt irgendeine Art von Charakter besitze oder quasi ein seelenloser Gestaltwandler bin, der immer nur das wiedergibt, was ihn seinem aktuellen Ziel so nahe wie möglich heran bringt. Am besten in die Gunst, Gedanken oder Genitalien seines Gegenübers.

Immer die richtige Antwort parat, immer einen frechen Spruch auf Lager, immer die korrekte Gratwanderung zwischen Mitgefühl, Ernsthaftigkeit und Humor. Und falls ich doch einmal die falsche Resonanz gebe und den dadurch ausgelösten inneren Schmerz des mentalen Rückschlags spüre, dann lerne ich daraus, justiere innerlich ein paar Stellschrauben und korrigiere sie beim nächsten Versuch. Aber bin das wirklich ich?

Die Frage danach, wer man eigentlich ist, ist so alt und klischeehaft wie das Leben selbst. Wahrscheinlich bin ich einfach nur ein aus Buchzitaten, Fernsehweisheiten und Sprüchen, die ich irgendwo von irgendwem, den ich einmal gut fand, aufgeschnappt habe, zusammengekleistertes Frankensteins Monster, das lediglich so tut, als wäre es ein Mensch, aber in Wahrheit nichts weiter als ein irgendwie am Leben gehaltener Parasit ist, der sich an den Ängsten, Träumen und Problemen anderer labt.

Dann stürze ich mich wie ein ausgehungertes Raubtier auf das erste depressiv wirkende Opfer, das meinen Weg kreuzt, zerfleische es mit Haut und Haaren und vergehe mich genüsslich an seinen Überresten, damit mich endlich wieder irgendetwas ausfüllt. Ein neuer Körper, ein neuer Gedanke, eine neue Wärme. Hauptsache irgendetwas anderes als das geschmacklose Nichts, an das ich mich bereits so lange gewöhnt habe.

Doch der Hauch der Befriedigung währt nur eine kurze Zeit und verschwindet dann so schnell wie er gekommen ist. Denn nichts kann diese unendlich scheinende Leere in mir füllen, besonders kein Gegenüber, das nur geliebt, gehalten und gerettet werden wollte, und nun nichts weiter als eine vage Erinnerung in meinem kontinuierlichen Blutrausch ist. Also ziehe ich, angewidert von mir selbst, weiter zum nächsten hübschen Gesicht. In der Hoffnung, dass dieses Mal alles anders wird. Ganz bestimmt.

Montag, der 27. Februar 2023

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