Gefühle ohne Namen: Zwischen Liebe, Hass und Mitleid
Marcel Winatschek
In den unerwartetsten Situationen trifft man auf Menschen, deren schiere Existenz einen so faszinieren, dass man es kaum begreifen kann. Es ist nicht so, als wäre man überwältigt von Liebe, Hass oder Mitleid, weil die zaghafte Zuneigung, die man für die Person auf der anderen Seite empfindet, nicht in die Gefühlsschablonen passt, in die man alle bisherigen Begegnungen fast schon instinktiv gepresst hat. Es ist keine Liebe, weil man nicht von Eifersucht, Begierde oder…

Gefühle ohne NamenZwischen Liebe, Hass und Mitleid
In den unerwartetsten Situationen trifft man auf Menschen, deren schiere Existenz einen so faszinieren, dass man es kaum begreifen kann. Es ist nicht so, als wäre man überwältigt von Liebe, Hass oder Mitleid, weil die zaghafte Zuneigung, die man für die Person auf der anderen Seite empfindet, nicht in die Gefühlsschablonen passt, in die man alle bisherigen Begegnungen fast schon instinktiv gepresst hat.
Es ist keine Liebe, weil man nicht von Eifersucht, Begierde oder Kummer zerfressen wird. Es ist kein Hass, weil man endlich wieder einen Hauch von Empathie verspürt. Man ist glücklich, wenn das Gegenüber glücklich ist, und traurig, wenn das Gegenüber traurig ist. Und es ist kein Mitleid, weil jede vermeintliche Zerbrechlichkeit, die man in dem anderen sieht, lediglich ein Spiegelbild seiner eigenen Unzulänglichkeiten ist.
Je interessanter man einen anderen Menschen findet, desto mehr möchte man natürlich über ihn erfahren. Selbst kleinste Banalitäten, die sonst niemandem bewusst sind, womöglich nicht einmal der im eigenen Scheinwerfer stehenden Person, werden bedeutsam, wichtig, ja, gar überbewertet. Was für Musik hört sie? Welche Kleidung trägt sie? Wie genau ist sie zu der Ansammlung von Ideen, Idealen und Identitäten geworden, die sie heute ist? Und was würde man mit den Antworten darauf überhaupt anfangen?
Die Unfassbarkeit des anderen Seins kann einen in den Wahnsinn treiben, wenn man nicht aufpasst. Denn man findet nicht nur keine Definition für die eigenen Empfindungen, nein, man schafft es nicht einmal, das Gegenüber in regalartigen Kategorien abzulegen. Denn jede Begegnung bringt neue Erkenntnisse und man fühlt sich gezwungen, die in Stein gemeißelten Theorien des Vortags wieder zu zerschlagen.
Dann ist der von Staub und Schutt durchsetzte Boden Zeuge dafür, dass die unumstößliche Menschenkenntnis, von deren Besitz man all die Jahre überzeugt war, ungefähr so viel wert war, wie die Zeit, die man dafür verschwendet hat, Antworten auf Fragen zu finden, die es womöglich gar nicht gibt. Weil nicht einmal der Mensch, in dem man eben diese Erleuchtung vermutet, von ihrer Existenz weiß.
Vielleicht projiziert man auch zu viel in den anderen Körper hinein. Vielleicht ist da drüben nichts. Vielleicht ist das auch nur ein ganz normaler Mensch, der einfach nur mit sich selbst und der Welt um ihn herum klarkommen möchte und allein damit genug zu tun hat, und man bildet sich eben nur ein, gerade ein bisschen vernarrt in ihn und seine Geheimnisse zu sein, weil man dadurch die Komplexität seines eigenen Lebens für eine kurze Zeit ignorieren kann. Schließlich kann man das Glück seiner selbst erst dann empfangen, wenn man herausgefunden hat, wie der andere Glück definiert. So lange wird die Realität ja wohl noch auf einen warten können.
Man zergrübelt sich den Kopf darüber, welches Gefühl man denn nun da eigentlich genau fühlt. Denn würde einem dessen Name, eine Definition, einfallen, könnte man leichter einen Weg finden, um damit umzugehen, es ad acta legen, damit klarkommen. Man ist sich nicht einmal sicher, ob das überhaupt ein richtiges Gefühl ist, was einem im Oberstübchen herum schwirrt, oder ob es sich am Ende nur um eine Einbildung handelt, weil man eben gerade wieder zu viel Zeit zum Nachdenken hat.
Das Gefühl ohne Namen ist zu stark, um es zu ignorieren, aber auch zu schwach, um sich vollends damit zu beschäftigen. Also trägt man es aus sich langsam einschleichender Gewohnheit mit sich herum und wartet fast schon ängstlich auf den Moment, wenn es wieder in der chaotischen Gedankenwelt anklopft - meist dann, wenn das verschmitzt lächelnde Gesicht, das einen erst auf diesen, im wahrsten Sinne des Wortes, merkwürdigen Pfad gebracht hat, den Raum betritt.
Womöglich ist diese Lücke in seinem eigenen Emotionsspektrum aber auch der traurige Beweis dafür, dass man sein bisheriges Leben in vorgegeben Bahnen bestritten hat, in dem sogar die Gefühle nur Kopien von Kopien von Kopien waren. Aus dem Fernsehen, aus den Büchern, aus den Lügen der Gesellschaft. Ihre Namen sind Regeln, nein, fast schon Gesetze dafür, wie man sich gefälligst zu verhalten hat, wenn man in eines dieser Gefühle hinein getappt war.
Du fühlst Liebe? Dann verachte die Beziehung, in der die andere Person steckt, platze vor Eifersucht, wenn sie jemand anderes auch nur ansieht, und weine nachts einsam onanierend in dein Kissen, weil du niemals ein Teil ihrer kunterbunten Welt sein wirst.
Du fühlst Hass? Dann verwandle das Leben der anderen Person in die Hölle auf Erden, zünde ihr Haustier, ihre Familie und ihren ganzen Wohnblock an, spinne die Fäden der Manipulation so gekonnt, dass sie am Ende schreiend auf offener Straße zusammenbricht, weil das Dasein doch keinen Sinn mehr hat.
Du fühlst Mitleid? Dann verwandle dich in einen mehr oder weniger unsichtbaren Schutzengel, der alles dafür tut, dass dem Opfer deiner Gunst auch nur niemals nie wieder Unheil geschieht - und vergiss nicht, dich dabei so richtig gut und toll und wichtig zu fühlen, weil sonst hat das ja alles gar keinen Sinn. Am Ende geht es nämlich nur um dich und um niemanden sonst. So wie immer halt. Was nützt es schon, einem anderen zu helfen, wenn man keine Lorbeeren dafür ernten kann? Eben.
Das Schlimme an dem Gefühl ohne Namen ist, dass man womöglich gar kein Recht darauf hat. Schließlich gibt es viel wichtigere Menschen im Leben der Person, auf die man da gerade seine abgenutzte Schablone stülpen möchte. Man ist nichts weiter als eine flüchtige Randfigur, deren Bühnenauftritt lediglich von so kurzer Dauer ist, dass man nicht einmal explizit im dazugehörigen Drehbuch erwähnt wird. Höchstens vielleicht als Passant, Zuschauer oder Typ Nr. 5.
Doch vielleicht reicht diese Einsicht schon aus, um Frieden mit dem Gefühl ohne Namen zu schließen. Womöglich macht es gar keinen Sinn, eine Bedeutung dafür zu finden. Weil es nicht von Dauer ist und so schnell wieder verschwinden kann, wie es gekommen ist. Spätestens dann, wenn die Person, deren zugänglicher Blick es erst ausgelöst hat, wieder weitergezogen ist. Auf zu neuen Szenen, Menschen, Geschichten. Während man selbst noch in der gerade vom Rampenlicht verlassenen und kurz vor der Auflösung stehenden Kulisse verweilt und der einst so entwaffnend lächelnden Silhouette hinterher blickt, nur um kurz darauf vergessen zu haben, dass es das Gefühl ohne Namen jemals gegeben hat.
Donnerstag, der 2. Februar 2023
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