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Marcel WinatschekPhilosophische Texte über Gestaltung, Informatik und digitale Populärkultur
Mein Leben als Student: Für Bildung ist man nie zu alt
© Dall-E

Mein Leben als StudentFür Bildung ist man nie zu alt

Nach dem mehr oder weniger plötzlichen Ende von AMY&PINK fühlte ich mich verloren. Fünfzehn Jahre lang hatte ich meine gesamte Energie in ein Projekt gesteckt, das am Anfang noch voller Spaß, Leidenschaft und Hoffnungen und zum Ende hin nur noch eine langsam dahin siechende Last war. Als der grelle Schriftzug dann vollends erlosch, wusste ich nicht, wohin mit mir. Ich versank im Nichtstun, die Tage zogen nur so an mir vorbei. War heute Dienstag oder doch schon Freitag? Februar oder September? Welches Jahr hatten wir überhaupt?

Ich konnte mich zu nichts Produktivem mehr aufraffen und brachte Tage, Wochen, Monate mit Spaziergängen, Fernsehserien und depressiven Phasen, in denen ich einfach nur da lag und abwechselnd durch Reddit, YouTube und Pornhub scrollte, herum. Von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Und umgekehrt. Mit Ende 30 schien mein Leben vorbei. Was sollte da jetzt schon noch groß kommen? Außer vielleicht der von zu vielen Tiefkühlpizzen und zu wenig Bewegung herbeigeführte Herzinfarkt.

Die einzigen Punkte, die mich am Leben hielten, waren die Sprachnachrichten meiner guten Freundin Hannah, die mich zu diesem Zeitpunkt womöglich besser kannte als ich mich selbst, der mir vom Arbeitsamt aufgebrummte Programmierkurs, damit ich wenigstens irgendwo verräumt war, und die Tatsache, dass ich für Selbstmord viel zu faul war.

An einem viel zu heißen Sommertag im Juni war ich mit dem 9-Euro-Ticket ins nahegelegene München gefahren, um dort im Kreis zu laufen und mir währenddessen ein paar Podcasts anzuhören. Schließlich kannte ich die Straßen meiner Heimatstadt langsam so gut, dass sie mir auf die Nerven gingen. In München herrschte zumindest Leben, selbst wenn es in mir drin schon keines gab.

Nachdem ich in einem Bücherladen einen Bildband über japanische Popkultur erworben hatte, weil das das einzige Thema war, was mich auch nur noch ansatzweise interessierte, setzte ich mich auf dem Weg zurück in die Innenstadt auf eine freie Bank, um ein wenig darin zu blättern und mir gleichzeitig die eiskalte Cola-Light-Dose, die ich mir im nahegelegenen Edeka gekauft hatte, an den Mund zu drücken. Deren Inhalt fungierte seit einigen Wochen als meine Hauptnahrungsquelle - ich wollte schließlich nicht noch fetter werden.

Als ich aufblickte, bemerkte ich, dass die Bank, auf der ich Platz genommen hatte, sich vor der städtischen Universität befand. Junge Menschen schwirrten kreuz und quer über das Gelände, plauderten, lachten. Einige hatten es eilig, andere saßen im Gras. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Die großen Gebäude wachten über die kleinen, meist hektisch herumwuselnden Gestalten, deren Zukunft sich in ihnen formen würde.

Die Kulisse erinnerte mich an Serien wie Gilmore Girls, Community oder Greek und ich fand es ein wenig traurig, dass ich nie die Möglichkeit hatte, ebenfalls das sicherlich ziemlich aufregende Dasein eines Studenten zu führen. Weil dafür zunächst mein Realschulabschluss nicht ausreichte und ich nach meiner Ausbildung zum Mediengestalter schlichtweg die Option, damit auch studieren zu dürfen, komplett ignoriert hatte.

Schließlich wollte ich Geld verdienen. Mit AMY&PINK. Und das würde ja zweifellos ewig leben und schon bald ein internationales Medienimperium werden. Wie die Vice. Oder die New York Times. Oder von mir aus auch Russia Today. Wer brauchte da schon ein Studium...

Ich saß also mit Ende 30 auf dieser Bank, konnte ein Buch und eine Dose Cola Light mein Eigen nennen, und bemitleidete mich selbst. Neben mir hatten zwei junge Frauen Platz genommen. Die Blonde erzählte stolz, dass ihre kleine Schwester sich gerade noch rechtzeitig für die Aufnahmeprüfung für das kommende Wintersemester angemeldet hatte. Die Brünette staunte etwas übertrieben. Hoffentlich wird sie angenommen! Bestimmt!

Als ich wieder zu Hause war, interessierte mich dann doch, was ich mit meiner durch meine Berufsausbildung erhaltenen Qualifikation eigentlich hätte studieren dürfen. Kommunikationsdesign stand da. Grafikdesign. Interaktive Medien. Und ich ärgerte mich ein wenig darüber, dass ich diese Möglichkeit nicht genutzt hatte, sondern so stur war, jeden Weg, der mich von meinem eigens geschobenen Film abbrachte, konsequent zu ignorieren. Und auf meine Verbohrtheit war ich damals auch noch stolz.

Bei meinem lethargischen Herumgeklicke im Internet stieß ich auf die Webseite der Hochschule Augsburg, die mit dem Studiengang Interaktive Medien seit einigen Jahren eine Mischung aus Gestaltung und Informatik anbot und diese mit blumigen Worten beworb.

In Zeiten großer gesellschaftlicher und technologischer Umbrüche verändert sich die Zukunft der Arbeit, des Zusammenlebens, der Mobilität und der Kommunikation, stand da. Ob im Web, im Internet der Dinge, in virtuellen Realitäten oder in einer Industrie 4.0: Medien und Technologien begegnen uns im Zuge der Digitalisierung unserer Umwelt auf vielfältige Art und Weise.

Mit unseren renommierten Studiengängen Interaktive Medien bereiten wir junge Menschen, die Lust am Gestalten und technischen Handwerk haben, in idealer Weise darauf vor, hieß es weiter. Den Studierenden werden design- und medienspezifische Kompetenzen sowie grundlegende Arbeits- und Verfahrensweisen vermittelt. In zahlreichen Seminar- und Projektarbeiten üben die Studierenden, ihr Fachwissen in der Praxis anzuwenden.

Und: Themen des Studiums sind u.a. Interface- und Interaktionsdesign, Softwareentwicklung, 2D/3D-Animation, Web- und App-Entwicklung, Sound- und Motion-Design, Gamedesign und Spieleentwicklung. Der einzigartige interdisziplinäre Ansatz der Fakultät für Gestaltung und der Fakultät für Informatik garantiert dabei eine fundierte Ausbildung in den Bereichen Gestaltung und Medieninformatik.

Der Studiengang klang wie eine bunte Wundertüte aus allem, was mir Spaß machte. Designen, Programmieren, man würde sogar lernen, wie man Videospiele kreiert. Der pure Wahnsinn. Bevor ich wieder im Selbstmitleid versank, weil ich diese Chance nie genutzt hatte, sprang mir ein Datum ins Auge. Noch eine Woche hatte man Zeit, sich für den Studiengang anzumelden.

In den dazugehörigen Zulassungsregeln stand geschrieben, dass nicht nur ein Abitur, sondern auch eine berufliche Qualifikation ausreichen würden, um das Studium antreten zu dürfen - vorausgesetzt man würde die notwendige Aufnahmeprüfung bestehen. Ich nahm einen Schluck aus der siebten Dose Cola Light an diesem Tag, überlegte kurz und füllte das verlinkte Anmeldeformular aus. Probieren kann ich's ja mal, war seit diesem Tag mein Motto.

Danach ging alles ganz schnell. Ich wurde zur Aufnahmeprüfung eingeladen, die ich bestand. Ich wurde zum Bewerbungsgespräch eingeladen, das ich bestand. Mir wurde der Antrag auf Immatrikulation zugeschickt, den ich termingerecht einreichte. Anfang Oktober betrat ich dann den Campus der Hochschule Augsburg, setzte mich zum ersten Mal in einen Hörsaal und war plötzlich Student.

Hatte ich einige Wochen zuvor noch gedacht, dass mein Leben mit Ende 30 vorbei wäre, dass da doch nichts mehr kommen könnte, dass alle Träume geträumt und alle Hoffnungen begraben wären, befand ich mich plötzlich in einer komplett neuen Geschichte, mit neuen Zielen, neuen Aufgaben und neuen Menschen. Ein unerwartetes Abenteuer hatte begonnen - für Bildung ist man schließlich nie zu alt.

Mittwoch, der 1. Februar 2023

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