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Marcel WinatschekPhilosophische Texte über Gestaltung, Informatik und digitale Populärkultur
Unter neuen Menschen: Allein sein kann man, wenn man tot ist
© Marie Mayr

Unter neuen MenschenAllein sein kann man, wenn man tot ist

Meine größte Sorge, als ich mein Studium begann, galt nicht etwa dem Lernstoff, den Professoren oder den Zukunftsängsten darüber, was zum Teufel ich mit dem Abschluss eigentlich anfangen würde, sobald ich ihn in der Tasche habe, sondern der Frage, wie die anderen Studenten auf mich reagieren würden. Schließlich war ich mit Ende 30 doppelt so alt wie sie. Die meisten von ihnen hätten meine Kinder sein können. Vielleicht waren sie es ja sogar. Das ein oder andere Gesicht kam mir doch gleich so bekannt vor...

In der Einstiegswoche hatte mein Verdacht sich bestätigt, dass ich der Älteste hier war. Mit großem Abstand. Nicht nur in meinem Studiengang, sondern generell im Umkreis von fünfhundert Metern. Wahrscheinlich war sogar der Hausmeister jünger als ich. Und der ging bald in Rente. Hätte mir das zu denken geben sollen? Ja, vielleicht. Aber jetzt war ich schließlich schon mal hier, also musste ich auch das Beste daraus machen.

Ich bereitete mich jedenfalls schon einmal mental darauf vor, die nächsten Jahre in Isolation am Seniorentisch zu verbringen, dort Haferbrei zu schlürfen und, mit mir selbst, über die guten alten Zeiten zu philosophieren. Als MySpace noch das Maß aller Dinge war. Als man VHS-Kassetten noch zurückspulen musste, bevor man sie in die Videothek zurückbrachte. Als das Lied des Jahres ein Technoremix der Schlümpfe war. Jeder Schlumpf hört gern Radio, volle Pulle sowieso. Der Rhythmus kracht in jedes Bein, so muss Dancemusik für Schlümpfe sein!

Während der Präsident der Hochschule seine dritte Willkommensrede an diesem Tag hielt und noch genauso enthusiastisch wie bei der ersten zu sein schien, war der Campus vollgestopft mit jungen Menschen, die gleichermaßen verwirrt und voller Nervosität hin und her wuselten.

Ihre T-Shirts waren mit mehr oder weniger kreativen Abi 2022-Sprüchen dekoriert. 12 Jahre Walk of Fame – Die Stars gehen, die Fans bleiben. Und: Abi heute, Captain morgen. Oder auch: Mit dem Abi in den Händen werden Helden zu Legenden.

Bei so viel geballter Jugendlichkeit hätte ich mich am liebsten übergeben. Allerdings hatte ich mit diesem Anblick natürlich schon vorher gerechnet. Weil ich überaus klug bin. Was hatte ich denn auch anderes erwartet? Eben. Diese Leute waren schließlich hier die Normalität - nicht ich. Sie waren die Masse, ich war der Fremdkörper.

Zwischen den Führungen, durch das Gebäude, die Stadt und den Raum, in dem der Bierkühlschrank stand, kam ich mit meinen Kommilitonen dann ins Gespräch. Nach und nach verwandelte sich der Einheitsbrei der mehr oder weniger modisch gekleideten Körper in interessante Charaktere mit Namen, Vergangenheiten und Humor.

Mir wurde sehr schnell klar, dass das auch nur ganz normale Menschen waren, von denen jeder Einzelne ebenfalls seine eigenen Ängste, Hoffnungen und Träume hatte. Und alle waren so aufgeregt wie ich, wenn nicht sogar noch mehr, nur eben aus anderen Gründen.

Eine Woche voller Kennenlerntouren, diverse WG-Partys und eine feuchtfröhliche Studienfahrt in den Bayerischen Wald später, fühlte ich nichts mehr von der Furcht, aufgrund meines fortgeschrittenen Alters keinen Anschluss finden zu können.

Als ich die Mensa am folgenden Montag betrat, strahlten mir bereits die ersten vertrauten Köpfe entgegen. Hey, Marcel! hörte ich von einem der Tische fröhlich herüber rufen. Ich grinste zurück, folgte dem regen Treiben und setzte mich auf einen freien Platz inmitten meiner neuen Weggefährten.

Natürlich bin ich trotzdem der alte Sack. Genauso wie Kerstin die Kifferin, Jonas der Furzer und Dana die, die im Feuerwehrauto gepoppt wurde ist. Nicht nur ich bekomme blöde Blicke von fremden Studenten zugeworfen, nein, jeder hat, auf welche Art und Weise auch immer, sein eigenes Päckchen zu tragen. Der Schlüssel zum Glück ist in diesem Fall bedingungslose Offenheit und eine positive Einstellung - egal wie schwer das einem manchmal auch fallen mag.

Teil einer Gruppe zu sein, bedeutet, sich seiner womöglich nicht ganz so ruhmreichen Unzulänglichkeiten bewusst zu sein und es mit Humor zu nehmen, wenn diese gerade im Rampenlicht stehen. Wichtig ist nur, dass man einen guten Spruch auf Lager hat, mit dem man das Rad weiterdrehen und so den Fokus auf den Nächsten lenken kann. Es ist ein Spiel, das man nur verliert, wenn man nicht daran teilnimmt.

Seit der schicksalhaften Einstiegswoche haben sich aus den hunderten Begegnungen Freundschaften herauskristallisiert, die mich durch die ganze Stadt, in diverse Wohnungen, Clubs und Bars, brachten. Egal, wo ich auch hinkomme, ich erblicke überall bekannte Gesichter.

Nicht nur aus meinem Studiengang, aus der Fachschaft und aus den von mir belegten Wahlfächern, sondern auch von Freunden, Mitbewohnern und Beziehungen derer, die mich nicht aufgrund meiner Andersartigkeit gemieden, sondern, ganz im Gegenteil, sogar in ihr Leben eingeladen haben. Den ein oder anderen dummen Spruch darf ich mir natürlich trotzdem immer mal wieder anhören. Aber das gehört dazu.

Heute ist es ganz normal, dass ich mit ihnen durch die Straßen ziehe, Geschichten austausche, Erinnerungen kreiere, den Morgen noch ein wenig hinaus zögere. Ich freue mich, mehr über diejenigen zu erfahren, die sich mir anvertrauen, ihnen mit Rat, Tat und dummen Sprüchen zur Seite zu stehen und ihnen dabei zu helfen, das ein oder andere Problem gewissenhaft zu lösen - vorausgesetzt sie wollen das überhaupt.

Wenn man der Meinung ist, dass man Menschen hasst, dass man niemand anderen außer sich selbst braucht, dass man besser dran ist, wenn man sich vor allem und jedem verschließt, dann muss man seine sieben Sachen packen, sein bisheriges Leben anzünden und woanders hingehen. Mit neuen Leuten, neuen Chancen und neuen Abenteuern. Und zwar so schnell wie nur irgendwie möglich.

Natürlich sind auch diese Beziehungen nicht von Dauer. Viele Namen, Gesichter und Begegnungen werde ich schon bald wieder vergessen haben. Und sie mich. Weil sie weitergezogen sind. Oder weil ich einen anderen Weg eingeschlagen habe. Und das ist vollkommen in Ordnung. Denn es werden wieder neue Menschen in mein Leben treten, immer wieder, solange ich das, auf welche Art und Weise auch immer, ermögliche.

Einige von ihnen werden da bleiben, für länger, vielleicht sogar für immer. Aber diese Chancen ergeben sich eben nur, wenn man nicht jeden erdenklichen Kontakt gleich im Keim erstickt, nur weil man sich selbst irgendwann eingeredet hat, dass man allein glücklicher ist. Aus Angst, aus Schmerz, aus Überforderung. Denn egal, für wie stark man sich auch in dieser Angelegenheit hält, irgendwann wird man daran zerbrechen. Und dann ist es zu spät.

Als wir laut johlend und nach Tequila, Wein und Popcornschnaps riechend aus Ivetas Wohnungstür und in den nächsten Späti stolpern, um noch ein paar Wegbiere zu erbeuten, blicke ich kurz die hell erleuchtete Straße entlang. Neue Menschen strömen durch sie hindurch, in den Gebäuden wird gelacht, gesungen und getanzt.

Ich bin, jetzt, in diesem Augenblick, ein Teil dieser Kulisse, dieses Ensembles, dieser Geschichten. Weil ich etwas gewagt und mich nicht vor dem Unbekannten verschlossen habe, obwohl das doch so viel einfacher gewesen wäre. Denn eines ist sicher: Allein sein kann man, wenn man tot ist.

Freitag, der 3. Februar 2023

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