Zehntausend Schritte: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede
Marcel Winatschek
Ich liebe Laufen. Setzt mich an einem beliebigen Ort auf diesem runden Erdenball aus, weist mir eine Richtung und ich laufe los. Von A nach B, kreuz und quer, geradeaus und im Kreis. Hauptsache weiter, immer weiter. Und wenn ich vom Laufen rede, dann meine ich natürlich nicht joggen, rennen oder sprinten, bei Gott, nein, sondern die entspannteste Art der menschlichen Fortbewegung: Das Gehen. In den vergangenen Jahren habe ich nach und nach mein Laufpensum erhöht. Lag…

Zehntausend SchritteWovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede
Ich liebe Laufen. Setzt mich an einem beliebigen Ort auf diesem runden Erdenball aus, weist mir eine Richtung und ich laufe los. Von A nach B, kreuz und quer, geradeaus und im Kreis. Hauptsache weiter, immer weiter. Und wenn ich vom Laufen rede, dann meine ich natürlich nicht joggen, rennen oder sprinten, bei Gott, nein, sondern die entspannteste Art der menschlichen Fortbewegung: Das Gehen.
In den vergangenen Jahren habe ich nach und nach mein Laufpensum erhöht. Lag meine tägliche Schrittzahl vor einiger Zeit noch im ein- bis zweistelligen Bereich, konnte ich mein Limit immer weiter steigern. Aus dreistellig wurde schon bald vierstellig. Aus vierstellig wurde irgendwann fünfstellig. Und aus fünfstellig wird womöglich irgendwann sogar sechsstellig. Falls das menschlich überhaupt möglich ist.
Die von einer japanischen Firma für Werbezwecke frei aus der Luft gegriffene und wissenschaftlich vollkommen irrelevante Zahl von empfohlenen zehntausend Schritten am Tag schaffe ich heute locker. Momentan kratze ich an durchschnittlich zwanzigtausend Schritten - wie so ein Hochleistungssportler.
Mein jeden einzelnen Menschen auf dieser Welt inspirierender Erfolg beruht auf drei signifikanten Säulen des individuellen Gelingens: Langeweile, Routine und Ablenkung. Ich habe schließlich nichts Besseres zu tun. Ich mache Dinge nur, wenn ich sie gewohnt bin. Und ich halte etwas lediglich dann durch, wenn meine Gedanken währenddessen mit etwas anderem beschäftigt sind.
Während ich bei alternativen sportlichen Betätigungen, wie zum Beispiel dem Joggen, in jeder einzelnen Sekunde des quälenden und vermeintlich niemals enden wollenden Fortgangs darauf hoffe, dass mich irgendein verwirrter Jäger mit einem graziösen Reh oder zumindest einem lediglich halbuntersetzten Wildschwein verwechselt und im Wald abknallt, damit ich es endlich hinter mir habe, bin ich beim Laufen oft überrascht, dass ich es bereits seit zwei, drei, manchmal vier Stunden mache, ohne dass ich es aktiv mitbekommen hätte.
In der Zeit, in der ich meine beiden noch funktionierenden Beine nämlich mehr oder weniger missbrauche, höre ich am liebsten irgendwelche alternativkulturellen Podcasts. Zum Beispiel den Plauschangriff. Oder Stay Forever. Oder Horrohr. Hauptsache irgendwas, in dem sich ein paar eingefleischte Nerds stundenlang leidenschaftlich über ein hart am Massenkonsum vorbei geschrammtes Thema unterhalten. Je geekiger, mehrstimmiger und lebhafter, desto besser.
Dann laufe ich mit meinen geräuschunterdrückenden Kopfhörern bewaffnet rasant durch Städte, über Felder, am See entlang. Vorbei an Autos, an Menschen und gut riechenden Cafés, Boutiquen und Dönerbuden. Immer nur das eine Ziel vor Augen, Hauptsache immer weiter zu laufen, bis ich vor Erschöpfung fast kotzen muss.
In Augsburg, wo ich momentan ja bekanntlich studiere, habe ich eine Stammstrecke, die zwar optimal ausgelotet wurde, aber dennoch für Experimente offen ist. Ich mag die Stadt sehr gerne, weil sie weder zu groß noch zu klein ist und weil man sowohl in verlassenen Gassen als auch im wuseligen Trubel der Massen verschwinden kann - je nachdem, worauf man eben gerade Lust hat.
An einem mir komplett zur freien Verfügung stehenden Tag steige ich also zwei Stationen vor dem Hauptbahnhof aus, laufe zur Unibibliothek, gönne mir einen Kaffee und ein bisschen Laptopzeit und mache dann eine große Runde durch das Textilviertel, den ein oder anderen Park und die Altstadt, bevor ich mir im Rewe etwas zu essen kaufe und wieder nach Hause fahre.
Und das mache ich genauso, jeden Tag, immer wieder, wie so ein kaputter Roboter, der kein Leben hat. Aber es funktioniert. Weil es eben routiniert ist. Weil ich die abwechslungsreiche Strecke mag. Weil ich ganz genau weiß, wo auf meinem für Außenstehende willkürlich wirkenden Weg ich mich ausruhen, wo ich ins Internet und wo ich aufs Klo gehen kann. Und genau diese Sicherheit brauchen mental benachteiligte Autisten wie ich eben.
Dieses kalkulierte Wissen reduziert die Chance auf unangenehme Überraschungen enorm, lässt aber trotzdem genügend Spielraum für neue Ideen, Geheimnisse und Entdeckungen. Und ab und zu trifft man sogar Menschen, die man bereits oder eben noch nicht kennt, und mit denen man ein bisschen plaudern kann. Dadurch fühlt man sich wenigstens nicht ganz so einsam beim sturen Kreise drehen.
Aber, Marcel, wenn du jeden Tag drölftausend Kilometer herum läufst, wieso bist du dann immer noch so eine fette Sau?
Auf diese freche wie vollkommen unerwartete Frage habe ich drei optimal durchdachte und ausformulierte Antworten. Erstens: Halt's Maul. Zweitens: Keine Ahnung, was weiß denn ich. Drittens: Ich arbeite dran, okay?! Mehr Informationen dazu gibt es in meinem bald im Buchhandel eures Vertrauens erhältlichen Ratgeber Bosstransformation: Vom Kampfkoloss zum Strich in der Landschaft.
Während ich euch hier einen vom Laufen herunterpredige, möchte ich damit eigentlich nur klarstellen, dass ihr, falls ihr, warum auch immer, mehr Bewegung in eurem Leben braucht, lediglich etwas finden müsst, was euch nicht komplett abfuckt, während ihr es macht. Das kann wirklich alles sein. Außer vielleicht Chips fressend auf dem Sofa herum hängen. Vorausgesetzt ihr nehmt dabei nicht ab. Weil wenn doch, dann habt ihr quasi das Leben gewonnen.
Die einzige Regel, die ihr dabei beachten müsst, ist die, dass ihr die verschiedenen, euch zur Verfügung stehenden Aktivitäten solange durchprobieren müsst, bis ihr endlich auf etwas stoßt, bei dessen Ausübung ihr euch keinen plötzlichen Herzstillstand als Ausrede wünscht, endlich damit aufhören zu dürfen. Manche haben das Glück, dass es gleich die erste Wahl ist, und andere werden erst mit dem hundertsten Versuch glücklich. Diese Gefahr muss euch eben bewusst sein - aber es lohnt sich.
Und ist das bei mir eben im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter, bei Sonne, Regen oder Schnee, Wege entlang zu laufen und dabei hoffentlich nicht vom Bus überfahren zu werden, ist es bei euch eben... was weiß denn ich... Fußball. Oder Tennis. Oder ohne Absicherung und sonstige Kleidung Wolkenkratzer hinauf klettern. Wenn die 08/15-Scheiße nichts für euch ist, dann solltet ihr eben über den Tellerrand hinaus schauen. Das Leben steckt voller Möglichkeiten - ihr müsst sie nur nutzen.
So, genug Gurugerede für heute. Ich ziehe jetzt meine müffelnden und fast schon zu laut nach Erlösung rufenden Sportschuhe an, suche mir einen fünfstündigen Podcast über die besten Super-Nintendo-Spiele aus den frühen Neunzigern heraus und gehe dann wie Hänschen klein in die weite Welt hinaus. Falls ich dabei doch vom Bus überfahren werden sollte, dann bin ich wenigstens bei etwas drauf gegangen, was ich wirklich, von ganzem Herzen liebe. Und das kann schließlich nicht jeder von sich behaupten.
Montag, der 6. März 2023
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