Der leise Tod des Herrn Majuskel: Brauchen wir noch Großbuchstaben?
Marcel Winatschek
Buchstaben waren mir als Fünfjähriger ziemlich egal. Ich malte ausufernde Rennstrecken auf ein großes Blatt Papier, ohne die Worte “Start” oder “Ziel” zu verwenden, konnte Wege und Straßen entlang gehen, ohne von Werbeplakaten erschlagen zu werden (weil ich sie nicht verstand) und spielte Videospiele, ohne auch nur eine leiseste Ahnung zu haben, von was das grüne Männchen vor mir redete. Englisch konnte ich nämlich schon gar nicht. Die kindliche Ruhe wich schlagartig…

Der leise Tod des Herrn MajuskelBrauchen wir noch Großbuchstaben?
Buchstaben waren mir als Fünfjähriger ziemlich egal. Ich malte ausufernde Rennstrecken auf ein großes Blatt Papier, ohne die Worte “Start” oder “Ziel” zu verwenden, konnte Wege und Straßen entlang gehen, ohne von Werbeplakaten erschlagen zu werden (weil ich sie nicht verstand) und spielte Videospiele, ohne auch nur eine leiseste Ahnung zu haben, von was das grüne Männchen vor mir redete. Englisch konnte ich nämlich schon gar nicht.
Die kindliche Ruhe wich schlagartig, als ich in die Schule kam und mir Jahr für Jahr grammatikalische Regeln eingebläut, typografisches Verständnis abverlangt und der Unterschied zwischen Groß- und Kleinbuchstaben erklärt wurde. Worte, die am Anfang eines Satzes stehen, oder den Substantiven angehören, schreibt man groß. Und wehe man ignorierte das. Dann gab es einen Wolken-Sticker – oder später eben eine Sechs.
Mit dem Einzug des Internets und der kunterbunten Javascript-Chaträume änderte sich nicht nur unser Schlafrythmus und das Feingefühl für technikverliebte Muttersöhnchen, sondern ganz besonders unsere Liebe zur korrekten Rechtschreibung. Die wurde nämlich im Zeitalter der schnellen Antworten, beleidigenden Ausrufe und süßen Smileys in Grund und Boden vergewaltigt und hat heutzutage keine besondere Relevanz mehr. Großbuchstaben? Ja, die verwende ich, wenn ich laut sein möchte! Aber sonst…
Nach Jahren der eMails, Tweets und ICQ-Nachrichten haben sich die Minuskeln zur Vorherrschaft im Netz avanciert und unser Verständnis für eine jahrhundertelange Orthografie in kürzester Zeit vom Tisch gewischt. Oft sitze ich selbst vor einem jungfräulichen Fenster des Facebook-Chats und fühle mich fast schon uncool, wenn ich auch nur den Gedanken streife, die Shift-Taste mal wieder auferstehen zu lassen.
Und konnte man früher noch abwägen, dass man sich in einer persönlichen Mail klein hält und bei einer offiziellen eher zur Großschreibung tendiert, verwischen selbst diese Grenzen zusehends. Denn egal ob Freunde, Kollegen oder unbekannte Korrespondenten: Majuskeln sterben langsam aus.
Bei dieser radikalen Veränderung des Gebrauchs der deutschen Rechtschreibung stellt sich langsam aber sicher die Frage: Brauchen wir überhaupt noch Großbuchstaben, da sie eh niemand mehr verwendet? Wäre unser Informationsverkehr nicht schneller, standardisierter und persönlicher, wenn wir den Zeichen der Zeit Glauben schenken und uns von alten Lasten befreien würden? Oder würdet ihr die Majuskeln doch irgendwie vermissen? Bei solchen Problematiken wünsche ich mir doch glatt noch einmal fünf zu sein – da kümmerte ich mich nämlich eher um die Auswahl meiner Buntstifte, als um den harten Umsturz einer orthografischen Hegemonie.
Mittwoch, der 21. Dezember 2016
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