Newsletter abonnieren   Newsletter abonnieren
Marcel WinatschekPhilosophische Texte über Gestaltung, Informatik und digitale Populärkultur
HIV Positiv: Willkommen in der kranken Hauptstadt
© Nik Shuliahin

HIV PositivWillkommen in der kranken Hauptstadt

Es gibt Geschichten im Leben, die hört man und kann sie nicht glauben. Oder will es lieber auch gar nicht. Wie die Story von der importierten Vogelspinne im Schlafzimmerbambus. Und die Schreckenssagen der Organmafia in Polen, die kommt um dir deine Nieren heraus herauszuschneiden. Oder eben die Geschichte meines Bekannten Johnny, dessen Leben in nur einer Nacht zerstört wurde.

Cooler Typ, Mitte Zwanzig, Barkeeper in einem angesagten Club in Berlin. Einfach jemand, mit dem man sich gerne trifft, um ‘ne gute Zeit zu haben. Immer Feiern und Spaß, doch seine letzte Party wird er nie wieder vergessen. Ihm wurden Drogen ins Glas geschmissen. Dann wurde er verschleppt, vergewaltigt, zurück gelassen. Als er am nächsten Morgen in einem Waldstück zu sich kam, war er blutverschmiert.

Als wäre das nicht schlimm genug gewesen, wurde er nach dieser Nacht positiv auf HIV getestet. Verdammte Scheiße. Da werdet ihr ohnmächtig an den Arsch der Welt gezogen, vergewaltigt und danach habt ihr auch noch verficktes HIV! Johnny war am Boden zerstört, war kraftlos, am Ende. Doch er hatte den Mut aus seiner neuen Krankheit keinen Hehl zu machen, erzählte jedem seine Geschichte, um andere davor zu warnen. Vor solchen Menschen, vor solchen Drogen, vor solchen Arschlöchern.

Als Dank für seine Offenheit wird er jetzt im Job und im Leben gemobbt. Gästen wird geraten, ihm nicht zu Nahe zu kommen. Erst recht keine Küsse, keine Berührungen. Er hat HIV, das ist schließlich ansteckend. Über die Luft, könnte man meinen, wenn man einigen Panikmachern dann so zuhört. Nur wenige setzen sich für ihn ein, viele schauen weg. Oder hauen gleich noch mit drauf, mit dem kann man's ja schließlich machen.

Dass man heutzutage als HIV-infizierter Menschen, mit den richtigen Medikamenten, ein langes und erfülltes Leben führen kann, das ist den meisten egal. Sie sehen nur den Makel und eine größtenteils vollkommen irrelevante Gefahr für sich selbst, wenn sie denn nicht gerade ungeschützten Geschlechtsverkehr haben oder Spritzen austauschen. Und das alles passiert jetzt, in diesem Augenblick. In meiner Stadt.

Johnnys Geschichte geht mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf. Nicht nur, weil ich nicht verstehe, wie Scheißhaufen von Menschen ihm nur so etwas Grausames antun konnten, sondern besonders, wie ich als Opfer in dieser Situation reagieren würde. Der Arzt sagt mir: "Sie sind HIV positiv!" So. Und jetzt? Würde ich es offen in die weite Welt hinaus schreien und damit riskieren, ab jetzt gesellschaftlich gemieden zu werden? Leben zerstört, Karriere zerstört, Sex zerstört?

Oder würde ich es so gut es geht verheimlichen, nicht wahrhaben wollen, auf Teufel komm raus so weiter machen wie bisher, es nur niemandem erzählen? Inklusive schlechtem Gewissen, der potentiellen Ansteckung meiner weiteren Liebschaften und immer mit der Angst im Hinterkopf, dass es doch irgendwie rauskommt? Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht. Hättet ihr denn den Mut dazu?

Sonntag, der 27. November 2016

Kommentar schreiben