Klein, flach, schief: Die Schamgrenze der Liebe
Marcel Winatschek
Als Dieter sich schwerfällig von Sandra herunter rollt und erschöpft neben ihr liegen bleibt, da ist sie den Tränen nahe. Monatelang hatte sie ihn umgarnt, gereizt, geliebt – für sich ganz allein gewonnen. Sie träumte von romantischen Ausflügen an den Strand, einer groß angelegten Hochzeit mit allen Freunden und Bekannten und an kleine Ebenbilder, die schon bald im zurecht gestutzten Vorgarten herumtollen sollten. Doch nun liegt Sandra starr und mit weit aufgerissene…

Klein, flach, schiefDie Schamgrenze der Liebe
Als Dieter sich schwerfällig von Sandra herunter rollt und erschöpft neben ihr liegen bleibt, da ist sie den Tränen nahe. Monatelang hatte sie ihn umgarnt, gereizt, geliebt – für sich ganz allein gewonnen. Sie träumte von romantischen Ausflügen an den Strand, einer groß angelegten Hochzeit mit allen Freunden und Bekannten und an kleine Ebenbilder, die schon bald im zurecht gestutzten Vorgarten herumtollen sollten. Doch nun liegt Sandra starr und mit weit aufgerissenen Augen da und blickt schockiert zur Decke. "Und wie war ich, Schatz?", stöhnt Dieter mit letzter Kraft herüber. "Klein."
Unsere Partner werden von uns nicht nur wegen des Aussehens geliebt. Wir vergöttern sie aufgrund ihrer Persönlichkeit, den Erinnerungen, der Zukunft. Tiefe Verbundenheit, die so schnell niemand zerstören kann, ein dickes Band des Vertrauens. Zusammen sind wir stark. Zwei Menschen gemeinsam gegen den Rest der Welt. Aber oft können bereits kleine Dinge eben dieses Band zum Reißen bringen. Sehr kleine. Oder schlaffe. Oder gekrümmte. Oder seltsam riechende.
Wenn wir unsere Eroberung zum ersten Mal wie ein Weihnachtsgeschenk auspacken und voller Vorfreude an ihren Körpern entlang fahren, dann wollen wir keinesfalls Zeuge davon werden, dass dem lieben Gott so manches seiner uns angeschraubten Körperteile entartet ist.
Dein Penis ist entartete Kunst. Viel zu klein und krumm und schief. Deine Brüste sind entartete Kunst. Viel zu lasch und flach und unförmig. Deine Vagina ist entartete Kunst. Viel zu weit und geruchsintensiv, mit diesen Fetzen als Schamlippen.
Wie reagieren wir, wenn wir unter dem warmen Schutz der Kleider und der Illusion von Erwartung Dinge ans Tageslicht bringen, die die Grenzen unserer sexuellen Zuversicht bei weitem sprengen? Können wir mit einem Menschen noch intim werden, wenn uns schon beim Gedanken an seine Scham ein kalter Schauer über den Rücken jagt? Der Geruch, die Form, das Gefühl – wie eklig. Oder sollten diese Ästhetikfehler bei der Wahl des zukünftigen Partners nur eine untergeordnete Rolle spielen, da wir uns doch schließlich präferenziell den inneren Werten eines Menschen hingezogen fühlen?
Womöglich verlieben wir uns am Ende sogar in die kreativen Macken der gegenüberliegenden Organe und würden ihre Abwesenheit beizeiten sogar vermissen. Kleine Schwänze sind nämlich für Analsex gemacht – das weiß doch jeder. Sandra hat ihren Schreck erst einmal überwunden und freundete sich mit Dieters Mini-Wini so gut es ging an. Schließlich hört man doch von allen Seiten, dass es nicht auf die Größe, sondern die Technik ankommt. Liebe überwindet nun einmal alle Grenzen. Und sei es nur die physische Begrenztheit von inkompatiblen Geschlechtsteilen.
Freitag, der 6. November 2015
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