Und wenn man dann fällt: Hey Stimmung, kannst du bitte weniger schwanken?
Marcel Winatschek
Manchmal braucht es nur einen einzigen Augenblick, einen Moment, einen noch so kleinen Gedanken, und plötzlich fällt man wieder. Hat man gerade noch gelacht und war sich seines Lebens froh, weil endlich einmal etwas so geklappt hat, wie man es sich immer wünschte, oder man zumindest, zur Abwechslung, keinen Grund hatte, die Welt und jeden einzelnen Menschen darauf zu hassen, stürzt man eine Sekunde später wieder in den selben, alten, abgegriffenen Abgrund, aus dem ma…

Und wenn man dann fälltHey Stimmung, kannst du bitte weniger schwanken?
Manchmal braucht es nur einen einzigen Augenblick, einen Moment, einen noch so kleinen Gedanken, und plötzlich fällt man wieder. Hat man gerade noch gelacht und war sich seines Lebens froh, weil endlich einmal etwas so geklappt hat, wie man es sich immer wünschte, oder man zumindest, zur Abwechslung, keinen Grund hatte, die Welt und jeden einzelnen Menschen darauf zu hassen, stürzt man eine Sekunde später wieder in den selben, alten, abgegriffenen Abgrund, aus dem man jedes Mal ein kleines bisschen schwieriger wieder herauskommt.
Dann scheint es kein Grau zu geben, keine Abstufungen. Nur Schwarz und Weiß. Man ist entweder vom puren Glück der ewigen Existenz durchtränkt oder nichts hat einen Sinn und es wäre besser, wenn man jetzt und hier vom Erdboden verschwinden würde, weil man dann endlich nicht mehr darüber nachdenken müsste, warum, um Gottes Willen, jetzt schon wieder alles scheiße war, obwohl es doch gerade, noch vor ein paar Minuten, so gut lief. Dazwischen gibt es nichts. Kein Seil, keinen doppelten Boden. Man fliegt oder man prallt auf.
Was man gerade noch als sicher, gut und unbeeinflussbar von negativen Gedanken einschätzte, steht nun erneut auf dem Prüfstand. Man fängt an zu grübeln. Zu zweifeln. Alles zu hinterfragen, was man eigentlich bereits als gesetzt angesehen hatte. Das Misstrauen umhüllt einen dann wie ein bleiener Umhang, der sich geschmeidig um den eigenen Körper legt und anschließend langsam zu Boden drückt - wo man gefälligst auch hingehört.
War der Spruch von heute Morgen wirklich nett gemeint? Die Betonung war doch etwas zu ironisch, der dazugehörige Blick ein klein wenig zu spöttisch. Kann es sein, dass alles, was dieser Mensch jemals zu mir und über mich gesagt hat, gar nicht ernst gemeint war? Gab es einen Beweis dafür, dass wir uns wirklich gut verstehen? Wahrscheinlich verarscht er mich nur. Weil er am Ende genau wie alle anderen ist. Und mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm auf die Schliche zu kommen, bevor es zu spät ist - für was auch immer.
Oft reicht es schon aus, wenn das Gegenüber nicht sofort auf eine doch total lockere, witzige und gar nicht vor Selbstzweifeln triefende WhatsApp-Nachricht antwortet. Niemand hätte merken können, dass der spontan wirkende Spruch stundenlang in penibelster Kleinstarbeit in einem eigens dafür geöffneten Textverarbeitungsprogramm fabriziert und mit der perfekten Mischung aus Emojis, Satzzeichen und umgangssprachlichen Gepflogenheiten dekoriert wurde, um auch ja so menschlich normal wie nur irgendwie möglich rüberzukommen, wenn man ihn dann zur optimal ausgerechneten Zeit abschickt. Schließlich ist nicht jeder so ein kompletter Psychopath wie man selbst.
Dann befindet man sich unvermittelt wieder in der gleichen Achterbahnfahrt, wie schon tausende Male zuvor, mit den vertrauten Gedankenschleifen, die man immer wieder aufs Neue versucht zu durchbrechen - natürlich ohne Erfolg. Weil man in jeder mentalen Entscheidung stoisch die Richtungen einschlägt, die man immer schon gewählt hat. Als hätte man seit dem letzten Kollaps rein gar nichts gelernt. Und das, obwohl man sich geschworen hat, dass beim nächsten Mal alles besser wird - oder zumindest anders.
Also klappert man erneut alle Stationen der inneren Zerrissenheit mit seinem kleinen, verrosteten Wagen der fragwürdigen Metaphern ab und kommt am Ende der Fahrt zu der einen einzig wahren Erkenntnis, zu der man immer schon gekommen ist: Dass man es nicht wert ist - was auch immer einem gerade wichtig zu sein scheint.
Man ist es nicht wert, Freunde zu haben. Man ist es nicht wert, Liebe zu erfahren. Man ist es nicht wert, attraktiv zu sein. Man ist es nicht wert, ernst genommen zu werden. Man ist es nicht wert, erfolgreich zu sein. Man ist es nicht wert, ebenbürtig zu sein. Man ist es nicht wert, glücklich sein zu dürfen. Alle anderen sind es wert - nur man selbst eben nicht.
Aber das hätte einem ja von Anfang an klar sein sollen. Warum hatte man sich überhaupt die Mühe gemacht, Hoffnungen in Form dieses fragilen Kartenhauses aufzubauen, wo es doch offensichtlich war, dass jeder noch so kleine Windhauch alles wieder in sich zusammenfallen lassen würde? Diese Anstrengungen hätte man sich doch nun wirklich sparen können. Wie töricht. Wer nicht hören will, muss eben fühlen. Selbst schuld.
Diese extremen Stimmungsschwankungen kommen immer dann, wenn man sie gerade am wenigsten gebrauchen kann. Wenn man endlich im Reinen mit sich war, wenn man zu sich selbst gefunden hatte, wenn die Welt gar nicht mal so übel war. Aber Pustekuchen. Die Welt war übel. Richtig übel. Sie hatte sich gegen die eine Person verschworen, die doch einfach nur ihr Glück finden wollte. Und diese Person war man selbst.
Natürlich stand es außer Frage, dass man selbst für die Misere, in der man sich gerade hineingedacht hatte, verantwortlich war. Schuld waren, wie immer, die anderen. Schließlich wollte man nur das Beste für sich, für sie, für alle. Ahnten die das denn nicht? Wussten die das denn nicht? Womöglich hätte man sie ein bisschen härter von seinen zutiefst guten Absichten überzeugen sollen...
Auf dem Boden angekommen, bleiben einem nur zwei Optionen. Dort verharren und sich mit der bitteren Wahrheit, dass man einfach ein schlechter Mensch war, abzufinden, oder erneut nach oben zu greifen, um womöglich einen Weg zu finden, sein in Stein gemeißeltes Schicksal doch noch zu ändern. Wie auch immer man das anstellen mochte.
Manchmal braucht es nur einen einzigen Augenblick, einen Moment, einen noch so kleinen Gedanken, und plötzlich fällt man wieder. Vielleicht ist es unmöglich, sich diesen äußeren wie inneren Einflüssen zu erwehren. Vielleicht treffen sie einen immer, und dann mit so einer Wucht, dass man nicht mehr weiß, wo vorne und wo hinten ist. Wie ein Feind, der einen in- und auswendig kennt und immer genau auf den gerade entblößtesten Schwachpunkt zielt. Was auch logisch ist. Denn dieser Feind, das ist man selbst, und niemand anderes sonst.
Doch womöglich können wir uns im Vorfeld mentale Sicherheitsnetze spannen, die greifen, wenn diese Stimmungsschwankungen erneut Kurs auf uns nehmen. Ein Beutel voller guter, sicherer Gedanken, die uns davor schützen, wieder in den altbekannten Abgrund zu fallen. Wohlige Wahrheiten, die auch dann noch gültig sind, wenn alles andere der Verzweiflung zum Opfer gefallen ist. Und ein solides Grundvertrauen in sich selbst, dass man, trotz seiner psychischen Unzulänglichkeiten, einen Wert hat. Als Mensch. Als Freund. Und als jemand, dessen Liebe zu sich selbst auch die größten Ängste überwinden wird - hoffentlich.
Donnerstag, der 9. Februar 2023
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