Keyakizaka46: Lieder von Rebellion und Einsamkeit
Marcel Winatschek
Ich habe mir gestern Abend endlich die Dokumentation Our Lies and Truths über den Aufstieg und Niedergang der japanischen Mädchenband Keyakizaka46 angesehen, die ein paar fleißige Fans ins Englische übersetzt und auf ihrer Webseite zur Verfügung gestellt haben. Schließlich waren Techi und ihre Mitstreiterinnen in den vergangenen Jahren meine meist gehörtesten Idols. Songs wie Silent Majority, Ambivalent und besonders Black Sheep laufen bei mir auch heute noch rauf un…

Keyakizaka46Lieder von Rebellion und Einsamkeit
Ich habe mir gestern Abend endlich die Dokumentation Our Lies and Truths über den Aufstieg und Niedergang der japanischen Mädchenband Keyakizaka46 angesehen, die ein paar fleißige Fans ins Englische übersetzt und auf ihrer Webseite zur Verfügung gestellt haben. Schließlich waren Techi und ihre Mitstreiterinnen in den vergangenen Jahren meine meist gehörtesten Idols. Songs wie Silent Majority, Ambivalent und besonders Black Sheep laufen bei mir auch heute noch rauf und runter und die dazugehörigen Musikvideos sind perfomerische Meisterleistungen.
Menschen sind alle wie Wetterfahnen. Sie ändern sich mit der Richtung des Windes, drehen sich in diese und jene Richtung. Sie halten sich die Ohren zu, um die Stimme der Gesellschaft zu hören. Ich kann nur so leben, wie ich will. Deshalb bin ich allein. Mein Herz ist abgeschlossen, um nicht mit ihnen verkehren zu müssen. Ich bin exzentrisch und habe kein Problem damit, seltsam zu sein. Ich finde, es ist einfacher, missverstanden zu werden. Die Blicke der Leute stören dich nicht mehr, du bist von der Liebe abgeschnitten. Es stellt sich heraus, dass man Freiheit findet, wenn man heraussticht.
Yasushi Akimoto, der bereits für Acts wie AKB48, Onyanko Club und Iz*One verantwortlich war und auch Keyakizaka46 aus der Taufe gehoben hat, ist nicht ohne Grund der begabteste und gleichzeitig meist gehasste Produzent Japans. Einige Leute sagen, dass Yasushi Akimoto die japanische Musikindustrie zerstört hat, und ich stimme dem zu
, würdigte ihn einst der Kommissar der Agentur für kulturelle Angelegenheiten Shunichi Tokura mit scharfen Worten.
Wohin gehst du an einer Kreuzung, die voller Menschen ist? Die die gleichen Kleider tragen, den gleichen Ausdruck tragen? Du verschwindest in der Herde, ohne Verdacht zu schöpfen. Warum machst du dir Sorgen, anders zu sein als die anderen? Die Leute vor dir drehen sich zu dir um und sagen dir, du sollst in der Reihe bleiben. Sie predigen diese Regeln, aber ihre Augen sind tot.
Das Interessanteste an Keyakizaka46, die die erste Schwestergruppe der vier Jahre zuvor gegründeten Popkapelle Nogizaka46 war, ursprünglich unter dem Namen Toriizaka46 debütieren sollte und bereits vor dem ersten Auftritt zwei Mitglieder verlor, ist aber weder die Musik noch die tänzerische Qualität der Band und schon gar nicht der mächtige Mann im Hintergrund, sondern die pure Wucht, mit der ihr Center Yurina Hirate die gesamte Innen- sowie Außenwirkung der 2015 gegründeten Idolgroup in kürzester Zeit an sich gerissen hat, bevor sie mit jedem vergangenen Jahr weiter dem Wahnsinn verfallen ist, nur um im Jahr 2020 nach langem Hin und Her endgültig ihren Abschied bekanntzugeben. Kurz darauf musste die Band sich dann in Sakurazaka46 umbenennen, weil sie mit dem Loch, das die Techi genannte Yurina Hirate, die mit vierzehn Jahren ein Teil von Keyakizaka46 wurde, hinterließ, nicht klar kam.
Mit der Kraft der Zwietracht wollen wir die bestehende Ordnung zerstören. Ist es nicht verdächtig, wenn alle die gleiche Meinung haben? Bleib dir selbst treu, sonst ist das Leben sinnlos. Wenn ihr mich täuschen wollt, dann fangt besser damit an, mich auszulöschen. Reine Harmonie ist eine Gefahr. Ich werde nicht glauben, dass Freiheit etwas Schlechtes ist. Die Menschen sind alle verschieden voneinander. Erst wenn die Ordnung zum Chaos wird, ist es klar, dass eine neue Welt entstehen wird.
Der im Jahr 2020 von der eigenen Plattenfirma produzierte Film Lies and Truths zeigt den kontinuierlichen Verfall der zusammengecasteten Truppe. Es ist ein Drama um Depression, Burnout und absoluter physischer wie mentaler Überforderung seitens Techi und einer merkwürdigen Mischung aus Neid, Wut und Bewunderung seitens ihrer Kolleginnen.
Die Art und Weise, wie alle auf mich einreden, bereitet mir Unbehagen. Die Freunde, die mit mir Blicke austauschen, sehen in mir nichts als eine Last. Ich bin das einsame, schwarze Schaf, das aus der rein weißen Herde heraussticht. Egal wie man es ausdrückt, ich will nicht die gleiche Farbe haben. Wann nur wurde in diesem düsteren Raum das Licht angemacht? Auf meinem Smartphone bleibt nichts als eine lieblose Vergangenheit.
Techi war ein Wunderkind und niemand kam damit klar - besonders nicht sie selbst. In intimen Interviews lassen die ehemaligen Mitglieder von Keyakizaka46, benannt nach einer Straße im Tokioer Stadtteil Roppongi, den Impact, den Yurina Hirate auf sie und ihre Fans hatten, Revue passieren und versuchen den Augenblick zu bestimmen, in dem alles aus dem Ruder lief.
An einem Montagmorgen wurde mein Rock aufgeschnitten. Jemand im Zug zur Schule muss es getan haben. Tief in der Dunkelheit baut sich Stress auf. Haben sie mich nur benutzt? Wird der Zug an jeder Station halten, auch wenn dort keine Hoffnungen oder Träume zu finden sind? Ich werde nicht so dumm sein, um es mit dem Tod zu beenden, aber es gibt nichts, worauf ich mich genug freue, um weiterleben zu wollen. Wenn man erwachsen werden will, muss man sich an das Lügen gewöhnen. Ich bin nicht leidenschaftlich genug, um rebellieren zu wollen, aber nicht gehorsam genug, um alles zu akzeptieren.
Keiner weiß genau, was Yurina Hirate, die von der japanischen Presse als Wiedergeburt von Momoe Yamaguchi, ein Meisterwerk jenseits von Atsuko Maeda und, im Alter von nur fünfzehn Jahren, als eines der attraktivsten Idols des Jahres bezeichnet wurde, von einem fröhlichen Mädchen in das trübäugige und ständig allein und apathisch in dunklen Ecken sitzende Häufchen Elend verwandelte. Nur sie selbst. Aber sie spricht nicht darüber. Vielleicht irgendwann, deutete sie in einem Radiointerview aufgrund ihrer Graduation im Jahr 2020 an.
Ich denke, dass ich an Schlaflosigkeit leide, und bin enttäuscht, dass sie nicht nur mir gehört. Selbst der Sternenhimmel fühlt sich halbherzig an. Die Straßenlaternen sind zu hell... Ob es morgen sonnig oder regnerisch ist, es wird nur als das Heute ankommen, das sich nie ändert. Denn niemand sieht mich richtig an, selbst wenn ich in der Nähe bin. Als würde ich zur Kulisse ihrer Blicke gehören. Es ist vollkommen egal, ob das unscharfe Motiv nun weint oder strahlt. Ich werde meine Rolle an dem Platz einnehmen, den sie für mich vorgesehen haben. So wird man mich nicht hassen, oder? Wenn ich keine Probleme verursache, wird mir endlich Glück gewährt, nicht wahr?
Selbst in der Dokumentation findet Techi lediglich in Ausschnitten aus der Vergangenheit statt. Dann tanzt sie auf, und stürzt manchmal von, der Bühne, strampelt sich in Ekstase, zieht alle Blicke auf sich und implodiert am Ende. Ich kann nicht!
, hört man sie noch schluchzen, bevor sie von den schwarz gekleideten Menschen hinter den Kulissen in ein neues Kostüm gestopft wird.
Mein eigenes Spiegelbild auf der Oberfläche des Flusses ist wie ein Hund, der vergessen hat, wie man heult. Ich wedle mit dem Schwanz, um mein Futter zu bekommen. Ich glaube, ich wurde gezähmt. Unterdrücke nicht den Drang, aufzuspringen und zu beißen! Tu nicht so, als wärst du zu Gehorsam verdonnert! Warum klammern wir uns an das Glück, das wir jetzt haben? Wir müssen aus dem unsichtbaren Käfig ausbrechen, in dem wir gefangen sind.
Keyakizaka46 sangen Lieder über Jugend, Rebellion und das Gefühl, anders zu sein. Botschaften, die direkt ins Herz der depressiven Schulmädchen und traumatisierten Außenseitern Japans stießen und die Band dadurch von der poppig bunten Idolkonkurrenz abhob. Was bleibt, ist der kulturelle Einschlag einer kurzlebigen Musikgruppe, deren nach Anerkennung und Identität lechzenden Überbleibsel und eine rastlose Seele, die nun woanders ihr Glück sucht.
Freitag, der 27. Januar 2023
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