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Marcel WinatschekPhilosophische Texte über Gestaltung, Informatik und digitale Populärkultur
Disco Elysium: Eine Welt voller Geschichten
© ZA/UM

Disco ElysiumEine Welt voller Geschichten

Der Urlaubsort außerhalb Vaasas verschlang die vier Lund-Mädchen. Mit ihren winzigen Knochen und ihrer gebräunten Haut verschwand eine ganze Epoche. Sechs Kilometer gewundene Küste, ein beliebter Badeort in den Fünfzigern. Reihen von Umkleidekabinen, hohes Schilf, das im Wind raschelt. Hier findet man die Ära, der die Konservativen nachtrauern. Als Eltern ihre Kinder unbeaufsichtigt an den Strand schicken konnten, zwei Dollar für Eis und Busfahrkarte in der Tasche ihrer Sommerhosen.

Mama und Papa schüttelten besorgt den Kopf und verheimlichten die Nachrichten über die Kinder in Messina, Graad, Gottwald, wo man, so schien es ihnen, jede Woche das winzige Skelett eines Kindes fand, das in eine Ersatzmauer gegossen war. Regelmäßig flüchtete die Tochter von jemandem, der sie dort dreißig Jahre lang in einem Keller gefangen gehalten hatte, auf die Straße und schrie um Hilfe.

Aber nicht hier. Hier ist die Sozialdemokratie. Und die zarten Pfirsichblüten der Sozialdemokratie, ihre sanften Hilfsprogramme, diese fortschrittlichen Dinge lassen die gebrochene Seele eines Menschen in einer Art Hoffnung aufleuchten. Dieses Fantasieland wird für immer unberührt bleiben von jenem merkwürdigen technischen Drang, einen geheimen unterirdischen Raum zu bauen, einen mit einem Belüftungssystem, dessen Lüftungsschlitze im Rasen als Miniaturwindmühlen aus Ton getarnt sind.

Diese dunklen Fieberwolken des Geistes kühlen sich in den klaren Nebeln der freien Luft ab, der Atem der fernen blauen Gletscher lässt die kranken Gedanken eines Menschen gefrieren. Vaasa. Man würde viel lieber hier leben wollen. Und dann, an einem Dienstagmorgen, Wolken unter blauem Himmel, gingen die vier Schwestern schwimmen.

Das im Jahr 2019 erschienene Computerrollenspiel Disco Elysium des estnischen Studios ZA/UM findet in einer Welt, die roh, unbarmherzig und ohne jegliches Anzeichen von Empathie ist, statt. In einer Epoche des politischen Umbruchs, in der die Überlebenden eines erbarmungslosen Krieges sich noch das Blut aus den Gesichtern wischen müssen, sucht jeder nach den Resten von Glück. Egal ob in einer der großen Metropolen oder fernab des depressiven Trubels.

Harrier Du Bois, Kriminalbeamter im 41. Revier der Revacholer Bürgermiliz und von wenigen Freunden und vielen Feinden einfach nur Harry genannt, wacht eines Morgens ohne Erinnerung an seine Vergangenheit oder die Welt um ihn herum in einem heruntergekommenen Hotel am Meer auf. Er und sein zeitweiliger Partner vom 57. Revier, Leutnant Kim Kitsuragi, sind in das einst idyllische Küstenörtchen Martinaise gerufen worden, um dort den grausamen Mord an einem vorlauten Soldaten aufzuklären.

Die Welt von Elysium ist nicht das, was man eine generische Genrewelt nennen würde, erklärt der Entwickler Martin Luiga das Universum, in dem Disco Elysium spielt. Es ist weder eine pseudomittelalterliche Stasis, wie es Forgotten Realms war, noch ist es Fallouts affektierte Barbarei mit Waffen. Es ist auch keine Harry Potter-, Batman- oder Vampir-Fantasywelt, die im Grunde genommen unsere Welt mit einer geheimen oder speziellen Welt darin ist. Es handelt sich auch nicht um die technikbesessenen Punks von Steam und Cyber. Es ist eine moderne Fantasiewelt, eine Fantasiewelt in ihrer Modernität, die ungefähr der Mitte unseres 20. Jahrhunderts entspricht.

Es ist eine Welt mit dem Versprechen der Nichtstatik, das heißt, die Dinge erscheinen unentschieden, sie könnten in die eine oder andere Richtung gehen, führt Martin weiter aus. Sie ist unserer eigenen Welt nahe genug, dass die Dinge in ihr eine Bedeutung haben, sie ist ein geeigneter Rahmen, um Themen zu erforschen, die für unsere eigene Gesellschaft relevant sind, wie Bigotterie, Machtverhältnisse, Politik, bürokratische Apparate, geopolitische Beziehungen, Philosophie, Ideologie, Religion und so weiter.

Wir vermissen die ideologische Dominante, weil die westliche Welt traditionell kritisch gegenüber ideologischen Dominanten ist, kritisch sowohl gegenüber dem Staat als auch der Religion, fährt Martin fort. In einer klassischen Fantasiewelt gäbe es ohnehin zwei Hauptideologien, die sogenannten Guten und die Bösen, von denen die eine selbstlos und mitfühlend, die andere aber egoistisch und grausam ist. Die Versuche, dies zu überwinden, haben uns die Grittywelt beschert, eine Welt, in der jeder ein Arschloch ist und Pessimismus den Tag beherrscht. Es überrascht nicht, dass die Grittywelt auch verdammt statisch ist, und sinnvolle Veränderungen sind ihr verwehrt. Sie ist ein, nennen wir es mal, Schutz vor falschen Hoffnungen. Als solche ist sie stark unrealistisch.

Man könnte fragen, warum wir nicht eine noch modernere Welt schaffen, wenn wir unsere Möglichkeiten maximieren wollen? Nun, eine der Antworten ist, dass dies das notwendige Element des Eskapismus zerstört hätte, eine andere ist, dass wir keine gute Alternative zum Informationszeitalter schaffen können, weil wir selbst das Informationszeitalter nicht verstehen. Wir sind zu nah dran und es ist zu neu, um es zu verstehen, weil wir gerade noch mittendrin sind.

Die verfallene Welt von Disco Elysium steckt voller interessanter Geschichten, Ansichten und Charaktere. Von der ersten Minute an ist das Spiel wie ein geschwätziges Buch, das einen verschlingen und mit seinen nicht enden wollenden Chroniken die Luft rauben möchte. Egal wohin man Harry auch führt, durch die verwunschene Kirche, den kleinen Supermarkt oder den trostlosen Sumpf, mit jedem weiteren Schritt bricht die Historie eines Ortes über einen herein, den es so gar nicht geben dürfte - oder etwa doch?

Disco Elysium lebt von seiner enormen Entscheidungsfreiheit und der nicht zu unterschätzenden Gewichtigkeit des Zufalls. Das beginnt bereits, bevor Harry überhaupt zum ersten Mal die Augen öffnet, und zieht sich bis zum bitteren Ende hin, dann, wenn einem erst bewusst wird, welchen Weg man eingeschlagen hat, ohne zu erahnen, was man womöglich verpasst hat. Doch dann ist es bereits zu spät.

Harrys limitierte Zeit in Martinaise ist im Grunde eine als Krimiabenteuer getarnte Suche nach sich selbst. Möchte man den Einwohnern der Stadt als dauerbetrunkener Nazi entgegen treten? Als allwissender Philosoph? Als unverhohlener Muskelprotz? Als autoritärer Logiker? Oder doch eher als sympathischer Charmeur? Die Möglichkeiten in Disco Elysium sind scheinbar grenzenlos.

Wer sich auf die Welt von Disco Elysium einlässt, der muss jeder Ablenkung entsagen, der muss eins werden mit jedem einzelnen Polygon, das sich auf dem Bildschirm in ein lebendiges Gemälde verwandelt, der muss Harrier Du Bois werden. Oder besser gesagt: Harrier Du Bois muss man selbst werden.

Disco Elysium ist ein Erlebnis, das es in dieser Form und in dieser Intensität wohl kein zweites Mal gibt. Zwar deckt Martinaise nur einen Bruchteil dessen ab, was der im kontinuierlich auf einen zukommende Nebel verharrende Rest der Welt zu bieten hat, aber man kann erahnen, welche unfassbare Dramatik sich um einen herum verbirgt. Und mit jedem Gespräch, mit jeder Frage, mit jeder neuen Idee kommt man dieser Epik ein klein wenig mehr auf die Spur, ohne sie jedoch jemals vollends greifen zu können. Denn für das große Ganze ist man einfach noch nicht bereit - und wird es vermutlich auch niemals sein.

Mittwoch, der 1. März 2023

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