Netzsucht: Das Internet macht (un)glücklich
Marcel Winatschek
Es war wieder einer dieser typischen Tage, an denen man einfach nicht vom Computer wegkommt. Nach dem frühen Aufstehen gerade einmal einen Fertigkaffee von Starbucks aus dem Kühlschrank geholt, Klappe auf, Verbindung an. Der erste Artikel ist noch nicht fertig, ein Fehler im System bereitet mir Kopfzerbrechen, PR-Agenturen aus der ganzen Welt buhlen um meine Aufmerksamkeit. Hier ‘ne Mail, da ‘ne Übersetzung, Bildrecherche, Korrekturen, der nächste Artikel, Texte, Cha…

NetzsuchtDas Internet macht (un)glücklich
Es war wieder einer dieser typischen Tage, an denen man einfach nicht vom Computer wegkommt. Nach dem frühen Aufstehen gerade einmal einen Fertigkaffee von Starbucks aus dem Kühlschrank geholt, Klappe auf, Verbindung an. Der erste Artikel ist noch nicht fertig, ein Fehler im System bereitet mir Kopfzerbrechen, PR-Agenturen aus der ganzen Welt buhlen um meine Aufmerksamkeit. Hier ‘ne Mail, da ‘ne Übersetzung, Bildrecherche, Korrekturen, der nächste Artikel, Texte, Chats, Themensuche, Social-Media-Kram.
Dazwischen mal kurz beim Griechen etwas zu essen bestellen, wichsen, telefonieren. Und ehe man sich versieht, hat sich die Sonne auch schon wieder verkrochen und du hast nicht einmal das Tageslicht erblickt. Ich stehe da und schreie und kotze und denke mir: Ist es das? Ist das mein Leben? Habe ich mir das wirklich ausgesucht? Jede Minute an der frischen Luft darf in letzter Zeit als Goldschatz gewertet werden. Treffen mit Freunden, Sex mit Willigen, Konversationen mit Interessanten.
Das echte Leben wird zur Mangelware. Besonders, weil der Kreis von Leuten, mit denen man sich abgibt, langsam aber sicher auch nur noch aus überbeschäftigten Karrieretypen besteht, die entweder im Internet oder im Studium vermodern. Hund, Beziehung, Verreisen? Keine Zeit. Deadlines hier, Termine dort, alles am Laufen halten. Für mich als Intensivchaoten eine doppelte Bürde. Für was mache ich das eigentlich?
In einem kurzen Augenblick der Klarheit drehe ich mich um und sehe meinesgleichen. Überall. Menschen, die Tag und Nacht vor dem Screen sitzen, mit dem iPhone durch die Gegend jagen, immer online, keine Pausen, ständig beschäftigt. Denn Ruhephasen sind tot, jeden Moment kann ein neues Thema um die Ecke biegen. Fotostrecke, Video, Katastrophe. Am laufenden Band wird getwittert und gebloggt und gepostet und gechattet und gelesen, gelesen, gelesen. Facebook, Instagram, Twitter, Reddit, WhatsApp, Telegram, Pinterest, Tinder.
Manchmal komme ich mir vor, als hätte ich eine Quarter Life Crisis nach der anderen abonniert, möchte die Leute einfach nur packen und anschreien. Macht dich das wirklich glücklich? Umso mehr im Netz, umso froher das Gemüt? Wer minütlich, sekündlich seine Gedanken in die Welt hinaus tippt, dabei pro Tag noch zwei Staffeln am Stück schaut und trotzdem besser über das digitale Tagesgeschehen Bescheid weiß, als Spiegel Online, Reddit und Sascha Lobo zusammen – kann so jemand verdammt noch mal ein wirklich ausgeglichenes Leben führen?
Am schlimmsten sind die, die vollkommen mit ihrem Online-Image verschmolzen sind. Die sich über World-of-Warcraft-Spieler lustig machen, aber dann jedem abgesprungenen Follower hinterher trauern. Die TinyChat als Kuschelersatz missbrauchen und um fünf Uhr morgens klitschnass hochschrecken, weil sie geträumt haben, dass irgendwer seinen Fav zurück gezogen hat.
Die Magazine nur noch auf dem iPad lesen und Löschanträge auf Wikipedia stellen und nachts in der Agentur sitzen und sich jeden Abend auf DailyBooth verewigen und Lebensmittel bei eBay ordern und SoundCloud auswendig kennen und englische Bücher auf den Kindle laden und für das aktuelle Wetter lieber auf eine beschissene App klicken, anstatt den fetten Kopf mit dem fetten Hals einfach mal aus dem fuckin’ Fenster zu halten.
Ich liebe AMY&PINK und ich liebe was ich tue und ich liebe die (meisten) Leute, die ich durch das ganze Online-Ding kennen gelernt habe. Aber manchmal würde ich das alles in einen Sack packen, bei einem dubiosen Straßenhändler gegen magische LSD-Drops eintauschen und mich mit ihnen dann getrost in eine andere Welt katapultieren. In der es weder Tim Berners-Lee noch Mark Zuckerberg noch Bill Gates gibt, sondern nur irgendwelche alten Dörfer aus diesen verwunschenen Astrid-Lindgren-Geschichten. Die Kinder aus Bullerbü schienen mir jedenfalls immer ziemlich glücklich zu sein. Oder Michel aus Lönneberga. Wenn er nicht gerade von seinem Vater verprügelt wurde…
Seit all den Jahren bin ich mir nicht sicher, wer dümmer ist. Diejenigen, die sich mit Haut und Haaren dem Netz verschrieben haben und deswegen auch kein schlechtes Gewissen mehr haben. Weil sie sich ja Digital Natives nennen und im Netz arbeiten (wenn mal wieder die Mutter anruft und fragt, was zum Teufel ihr verdorbener Spross da die ganze Zeit treibt). Oder Loser wie ich, die der ganzen Scheiße manchmal suspekt gegenüber stehen, aber dennoch nicht mehr wissen, wann sie zum letzten Mal den Computer herunter gefahren haben.
Für mich persönlich habe ich entdeckt, dass mich das Internet am glücklichsten macht, wenn ich nebenher noch so viel echtes Leben wie möglich hinein packe. Damit meine ich Bewegung. Und Sonne. Und ab und zu ficken. Das reicht. Ein fröhlicher Abend mit Freunden. Mal 'ne Woche durch die Gegend gurken. Neues entdecken.
Wir müssen einfach wissen, wann es genug mit der ganzen digitalen Kacke ist und lernen, den Laptop zuzuklappen und das iPhone abzustellen. Auf dass wir nicht zu absoluten Netzzombies verkommen, die irgendwann geschlossen in eine staatlich finanzierte Selbsthilfegruppe in einem Haus am See gesteckt werden und dort nur noch Begriffe wie Circles, Apple und Meme durch die Gegend sabbern. Weil die Tage, an denen man einfach nicht vom Computer wegkommt, schleichend zur Normalität geworden sind.
Montag, der 23. Oktober 2017
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